Mein Engel,mein Bengel

Kurzprosa

von  Drita


In der Abteilung, in der ich arbeitete, herrschte meist eine fröhliche Stimmung. Fast das ganze Team war gut gelaunt – bis auf eine Kollegin, die unverheiratet war und sich sehnlichst einen Lebensgefährten wünschte.
Unsere Arbeit war gut organisiert, und selbst die Patientinnen und Patienten fühlten sich auf eine gewisse Weise wohl, weil wir ihre altersbedingten Beschwerden ernst nahmen und ihnen mit Respekt begegneten.

Wir betreuten zweiundzwanzig Patientinnen. Einige von ihnen litten an komplexeren Erkrankungen, weshalb unsere Abteilung mehr Verantwortung und dementsprechend mehr Pflegepersonal hatte. Die Patientinnen zahlten hohe Beträge für die Betreuung, die wir ihnen boten.

Im letzten Zimmer wohnte Frau Haller – eine ältere Dame, die wie ein Engel wirkte. Ihr Haar war weiß wie Schnee, ihr Körper schlank wie ein junger Pappeltrieb. Man sah ihr an, dass sie ein Leben lang auf sich geachtet hatte. Sie aß langsam, hatte jedoch keinen einzigen Zahn mehr. Ihre Kleidung war stets gepflegt und elegant; sie wirkte wie eine der vornehmen Damen aus Basel.
Stellt euch vor: Sie schnitt sogar ihre Glace mit einem Messer und aß sie mit einem Löffel mit langem Stiel.

Als junge Frau hatte sie eine Konditorei geführt, die später ihre Tochter und ihr Sohn übernahmen. Viele Verwandte besuchten sie regelmäßig. Besonders erwähnenswert ist, dass die beiden Söhne ihrer Schwester das Bestattungsinstitut der Region führten. Sie kannten nahezu jeden – und auch sie kamen oft vorbei. Sie liebte beide sehr; sie nannten sie stets „Tante“, so wie wir in der Heimat die Schwester unserer Mutter nennen.

Frau Haller sprach mit einer Wärme, die selten war, und hatte einen feinen Sinn für Humor.
Eines Tages, während ich ihr beim Anziehen half, sagte sie zu mir: „Du bist mein Bengel.“
Ich kannte das Wort Bengel damals nicht und fragte später eine Kollegin nach der Bedeutung.
Ohne zu zögern antwortete ich jedoch: „Sie sind mein Engel.“
Wir lachten beide herzlich. Ich hätte nie gedacht, dass man zu Patientinnen oder Bewohnerinnen eine so tiefgehende, fast seelische Verbindung aufbauen kann.

Frau Haller litt an Bronchitis und hatte oft Atembeschwerden. Ihre Ricola-Bonbons trug sie immer in ihrer Tasche.
Eines Tages kam ihre Tochter zu Besuch. Während sie den Korridor entlanggingen, fragte die Tochter, ob sie ein Ricola nehmen dürfe.
Frau Haller sagte: „Nimm, aber nur eines.“

Als sie an mir vorbeigingen, meinte Frau Haller zu ihrer Tochter: „Sie ist mein Bengel.“
Die Tochter entschuldigte sich bei mir. Ihre Mutter könne in diesem Alter manchmal nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden, sagte sie. Und sie wisse nicht, dass das Wort Bengel für mich beinahe wie Engel klang.

Es war Ferienzeit. Nachdem ich mich von allen verabschiedet hatte, ging ich für drei Wochen in den Urlaub.
Als ich zurückkam, erfuhr ich, dass Frau Haller in der Nacht aus dem Bett gefallen war und sich einen Bruch zugezogen hatte.
Ich war erschüttert, als ich sie sah. Sie sagte nicht mehr „mein Bengel“, sie lachte nicht, und sie freute sich nicht über meine Ankunft.
Sie war bereits 93 Jahre alt.
Zwei Tage später verstarb sie.

Ihre Familie lud mich zur Trauermesse und zum anschließenden Mittagessen ein – zu Ehren von Frau Haller, meinem Engel.
Seit diesem Ereignis habe ich mich zurückgenommen und niemanden mehr „mein Engel“ genannt.

PS:
Ich trug damals kurze Haare – vielleicht war das der Grund, warum Frau Haller mich Bengel nannte.




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