Hier in der Schweiz ist das Leben der älteren Menschen gut geregelt und hat hohe Standards. Aber, wie die Schweizer sagen: es menschelet – die Menschen bleiben Menschen, mit all ihren Zerbrechlichkeiten.
Juni 2006 - Altersheim
Frau H. war eine zurückhaltende, ruhige Frau, die nur sprach, wenn man sie ansprach. Sie war vor einigen Monaten zu uns gekommen. Sie war 92 Jahre alt und hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, als Köchin in der Kirche zu dienen. Sie hatte keine Familie; ihre einzige Schwester war kurz nach ihrem Einzug in unser Heim gestorben.
Oft saß sie im rosenumrankten Garten, stets ordentlich, sauber und bemüht um ihr Äußeres. Der einzige Mensch, der sie besuchte, war der Pfarrer der Kirche. Seinen Namen habe ich nie erfahren.
Alles schien normal, bis zu dem Tag, an dem Frau H. anfing, aggressiv zu werden. Weder Validation noch Gesellschaft noch ruhige Gespräche konnten sie beruhigen. Der Heimarzt änderte ihre Medikamente, doch es würde zwei Wochen dauern, bis sie wirkten. Sie hatte Angst, alleine zu sein. Sobald sie allein blieb, rief sie laut: „Hallo, hallo, hallo!“ Ihre Rufe störten auch die anderen Bewohner, und wir mussten die Ruhe bewahren und sie langsam beruhigen.
Meistens saß sie am großen Fenster. Von dort aus sah sie den Pfarrer, sobald er den Hof betrat, und rief sofort:
„Herr Pfarrer kommt, ich muss meine Kleider wechseln!“
Wir begleiteten sie in ihr Zimmer und halfen ihr, sich umzuziehen – meistens Unterwäsche und die langen Strümpfe. Sobald er eintrat, wurde sie sofort ruhig. Solange er bei ihr war, beruhigte sich auch das ganze Haus.
Doch im Laufe der Wochen verschlechterte sich ihr Zustand. Sie aß nicht mehr, trank nicht mehr. Sie strickte nicht einmal mehr Socken für den Pfarrer. Die Angst überkam sie jedes Mal, wenn sie allein war, selbst nur für zehn Minuten.
An einem Dienstag kam der Pfarrer wieder, um sie zu besuchen. Frau H. lag im Bett, zitternd und mit lauter Stimme rufend: „Hilfe, Hilfe!“
Die Tür stand offen. Man hörte den Pfarrer, wie er sie mit erhobener Stimme tadelte. Er blieb nicht lange. Er ging verärgert hinaus – und kam nie wieder.
Zwei Tage später erhielten wir die Nachricht aus der Kirche, dass der Pfarrer verstorben war.
Frau H. verstand es nicht. Ihr Zustand war schwer, sie war von der Angst verzehrt, weit entfernt von allem, was sie bis dahin am Leben gehalten hatte.
Eines Abends, während wir ihre Abendmedikation verteilten, trat eine Kollegin leise an ihr Bett, beugte sich zu ihr und sagte mit sanfter Stimme:
„Jetzt können Sie gehen…“
Am nächsten Tag starb Frau H.