Land der Dichter und Denker?
Nur Land der Richter und Henker, wie "Fackel"-Träger Karl Kraus höhnte? Oder Land der Bösewichter und Lenker, Entdecker und Erfinder, Bastler und Tüftler, Schrebergärtner und Kartoffelfresser? Einst war es das Land von Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, Kant und Hegel gewesen. Nun ist es das Land von Precht und Sloterdijk, Grass und Heidenreich, Lindenberg und Grönemeier.
"Ohnemichel" mit der Schlafmütze ohne Zivilcourage, humorlos obrigkeitsgläubig und unheilbar titelsüchtig, wie die Stereotypen des Volkscharakters lauten? Unkultivierte Hunnen und nur leicht anchristianisierte Heiden aus den sächsischen Wäldern, die lieber den "Sturm- und Brausegott Wotan" verehren, den der infizierte Tiefenpsychologe C. G. Jung im Dritten Reich als "Archetypus des kollektiven Unbewussten" Germanias sehen wollte, gegen die "jüdische Psychologie" seines enttäuschten Ziehvaters Sigmund Freud? Unter der leichten Tauftünche der alte Werwolf?
Eine "verspätete Nation" (Soziologe Helmuth Plessner), welche die Amerikanische Deklaration der Menschenrechte von 1776 und die Französische Revolution von 1789 verschlief und lieber den "Alten Fritz" von Sanssouci und Junker Bismarck von Friedrichsruh samt deren selbsternannte Nachfolger verehrte.
Kurzum : "Authoritarian Personality" (Horkheimer/Adorno)?
Von diesem Land und seinen Ideologen gingen die zwei schrecklichen Totalitarismen des atheistisch aufgeklärten 20. Jahrhunderts aus, der linke und der rechte "Sozialismus" mit zusammen rund 150 Millionen Todesopfern in wenigen Jahrzehnten, weit mehr, als was alle Religionen der letzten zweitausend Jahre zusammen in ihr Sündenregister einbrachten.
Um 1800 war diese seltsame kontinentale Mittelmacht allerdings Hochkulturweltmeister gewesen. Diese einsame Gipfelhöhe des "Deutschen Idealismus" und der literarischen Klassik wurde seither nie wieder erreicht, geschweige denn übertroffen, weder von anderen Nationen noch von ihr selbst. Einen Kleist hatte Frankreich auch, einen Kant nicht; einen Fontane hatte England auch, einen Hegel nicht. Seit Hegels Tod 1831 ging es stetig bergab vom "absoluten Geist" zum bloßen Zeitgeist. Hegels vermeintliche Überwinder fallen meist nur hinter ihn zurück. Wir hatten danach noch Schopenhauer und Nietzsche, Wittgenstein und Bloch, Jaspers und Heidegger : Nur säkulare Aufgeregtheiten des 19. / 20. Jahrhunderts.
An "Nathan der Weise" des Wolfenbütteler Aufklärers Lessing mit seinem Wettkampf der drei koexistenten monotheistischen Weltreligionen wäre wieder anzuknüpfen.
Deutschland ist ein furchtbar schönes Land, wie die ZDF-Fernsehserie "Terra-X / Deutschland von oben" vor einem Jahrzehnt gezeigt hatte : Herrliche Landschaftsluftbilder, Land, Stadt, Fluss fernsehgerecht aufbereitet (mit entbehrlich langweiligen technologischen Protzeinschüben). Der sonnige Süden ist nicht so mein Traumland, die Berge verstellen einem nur den freien Blick und machen witzige Wanderungen zu schwitzigen Kraxelpartien. (Graffiti-Parole der 68-er : "Nieder mit den Alpen : Freie Sicht aufs Mittelmeer!") Das platte Land ohne Plattdeutsch, Dialektik ohne Dialekt, hat dezentere Schönheiten und weniger spektakuläre. Himmel über Nord- und Ostsee bieten einen Hauch symbolischer Unendlichkeit, von Weltweite ohne Angstenge.
Im Norden der Repubik lebten und schrieben der Rostocker Reederssohn Walter Kempowski, Volksschullehrer in Nartum, und der misanthropische Bargfelder Heide-Prolet Arno Schmidt (den auch der Stuttgarter Antipode, der Idyllendichter Hermann Lenz mit seinen Eugen-Rapp-Romanen, bewunderte wie den Biedermeierpoeten Mörike).
Kant in Königsberg, Leibniz in Hannover,
Lichtenberg in Göttingen etc. etc.
Die norddeutsche Tiefebene, Dauerempfänger des Länderfinanzausgleichs, am Tropf der reichen Süddeutschen, ein wortkarger Menschenschlag, der stolz ist auf seine mangelnde Sprachmächtigkeit, eher einsilbig faschismus- als faschingsanfällig, eine schwarz-weiße bis nebelgraue "Moin-Moin-Welt" mit abgespeckter Jo-Nöh-Kultur.