Festgefahren

Kurzgeschichte zum Thema Veränderung

von  Füllertintentanz

Festgefahren

Seufzend ließ ich die Tür ins Schloss fallen. Das konnte doch echt alles nicht mehr wahr sein. Irgendwas stimmte nicht, stimmte so ganz und gar nicht. War es die so oft beschriebene Lebenskrise? Waren es die Hormone? War ich einfach nur überempfindlich?  Ich wusste es nicht. Das Einzige, was ich wusste war,  dass ich einen Tag vor meinem vierzigsten Geburtstag stand und gerade von meiner Frau gefragt wurde, was ich mir denn eigentlich wünsche. Ich  war sprachlos! Da waren  wir nun schon fast neun Jahre verheiratet und sie fragt mich einen Abend vorher,  über was ich mich freuen würde.  Wie einfallslos! Wie unsensibel! Es machte mich traurig. Nein mehr als das, es machte mich regelrecht wütend.
Schließlich war der morgige Geburtstag etwas Besonderes für mich. Mit vierzig zieht man schon mal eine kleine Bilanz, über Erfolg und Misserfolg des eigenen Lebens.  Ich stellte mir oft die Frage: „War das schon alles?“ Aber irgendwie habe ich es immer wieder geschafft, durch geschickte Verdrängungstaktik mir selbst die Antwort schuldig zu bleiben. Doch diese eine Frage meiner Frau ließ meinen zweifelnden Gedanken wieder neuen Raum. Ich wollte einfach nur weg. Raus aus dem Haus. Wohin war völlig egal.  Meine Gedanken und Gefühle schrien danach sortiert zu werden. Unentschlossen stand ich vorm Auto, überlegte kurz und fuhr los. Völlig ziellos irrte ich über die Landstraße. Ich war unfähig, die Dinge um mich herum normal wahrzunehmen. Viel zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt.
Irgendwann hielt ich an. Ich schlenderte durch eine enge Einkaufstraße. Angelockt durch die Klänge von Live-Musik  fand ich mich schließlich in einem  kleinen  Jazzkeller wieder.  Ich bestellte ein Bier, lauschte noch einem Moment der Musik und begann dann, in mich selbst reinzuhorchen.
Es ging mir gut. Ich hatte zwei ganz zauberhafte Kinder, ein nettes Häuschen und beruflich ausgesorgt. Meine Frau war eine hervorragende Mutter und außerdem hübsch anzusehen. Viele beneideten mich um mein perfektes Leben.
Doch war ich glücklich? Hatte ich mir so mein Leben erträumt? Ich ertappte mich dabei, wie ich  ganz unbewusst den Kopf schüttelte. Nein, ich war nicht zufrieden! In mir war eine Vielzahl von angesammelten Bedürfnissen. Seit Jahren lebte ich Daheim eine Fassade. Meine Frau und ich waren uns immer treu, schätzten einander sehr, doch wir lebten wie Bruder und Schwester. Zärtlichkeiten gab es schon lange nicht mehr und auch sonst keine Gemeinsamkeiten. Ich sehnte mich nach Mondscheinnächten. Sie verbrachte ihre Abende lieber vor dem Fernseher. Mir fielen bei näheren Hinsehen viele Momente ein, die mich maßlos enttäuscht hatten. Da war unser kleiner Urlaub auf Sylt. Lange hatte ich mich zuvor auf diese Zeit gefreut. Der Strand, der Himmel, die Landschaft, es war einfach traumhaft schön dort. Wir hatten es in den gesamten 14 Tagen nicht geschafft, auch nur ein einziges Mal  abends spazieren zu gehen.  Ich hatte Sehnsucht nach den Sternen.  Sie ging lieber ins Kino.  Ich wollte philosophierend vielen kleinen Fragen auf den Grunde gehen. Sie fand  Philosophie langweilig.
Diese Liste konnte ich endlos fortsetzen.  Unsere Wohnung war eingerichtet wie eine Puppenstube. Meine Frau verbrachte Stunden damit, alles perfekt zu halten. Für meine Begriffe viel zu perfekt. Es sah bei uns aus, wie in einem „schöner-Wohnen-Prospekt“. Ich mochte mich in meinem eigenen Haus nicht frei bewegen, aus Angst, bloß nicht wieder irgendwas zu verschmutzen. Oft beschwerte sie sich, ich würde ihr zu wenig helfen, doch alles was ich tat, war ihr nie ordentlich genug.
Es gab in unserer ganzen Wohnung nur ein Möbelstück, welches ich ausgesucht hatte. Es war eine gemütliche kleine Rundecke. Ich hatte sie gekauft, in der Hoffnung, dass wir sie auch mal gemeinsam nutzen würden.  Doch diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Ich hatte stets die gesamte Ecke für mich alleine, sie benutzte weiterhin ihren  Sessel. Oft hatte ich mich schon gefragt, ob es irgendwo in diesem  Land eine Frau gibt, die es nicht kitschig findet, wenn ein Mann Gefühle zeigt. Die genau wie ich all die kleinen Dinge des Lebens wahrnimmt und liebt.  Ich fing an von dieser Frau zu träumen. Stellte mir vor, wie schön es wäre,  mal wieder herrlich spontan zu sein. Die verrücktesten Dinge kamen mir in den Sinn: Hemmungsloses Knutschen am Strand, die ganze Nacht dicht am Lagerfeuer gekuschelt Lieder zu singen, mal wieder unter freiem Himmel zu schlafen....
Waren das wirklich alles verrückte Gedanken oder waren sie nur in meinem Leben unvorstellbar? Ich wusste es nicht. Waren diese ganzen Fragen unvernünftig, egoistisch und unmoralisch?  Ist es vielleicht ganz normal, dass man sich mit vierzig noch mal nach jugendlichen Verliebtheitsgefühlen sehnt?
Ich blickte auf mein leeres Glas und stellte es entschlossen zurück auf den Tresen. Es war mir egal, was vernünftig und was unsinnig ist. Es war mir auch egal, was meine Umwelt meinte, zu diesem Thema denken zu müssen. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich etwas verändern musste.  Mir wurde bewusst, dass alle meine Bedürfnisse Teil meiner Persönlichkeit waren. Diese dauerhaft zu verdrängen käme einer Selbstverleugnung gleich.  Es waren nicht nur die Schmetterlinge die mir fehlten, sondern große Teile meiner Selbst kamen in der Vergangenheit einfach zu kurz. Eine gewisse Zeit lang kann man versuchen, das Bewusstsein zu manipulieren, doch das Unterbewusstsein ist nicht steuerbar. Es ist das Hinterland unserer Seele. Mein Hinterland glich einem völlig ausgebeuteten Acker. Ich selbst hatte die Pflege vernachlässigt. Viele Monate hatte ich gar nicht gesehen, dass mein Innerstes pflegebedürftig war. Dann sah ich es und wollte es nicht sehen. Ich legte die Decke der Ignoranz auf die zerpflügten Stellen. Darauf  folgte der Mantel des Zweifelns. Die Angst und die Ungewissheit vor der Zukunft lähmten mich die letzten Wochen. Doch sie lähmten nur mein Handeln. Nicht meine Unruhe. Auch nicht meine Unzufriedenheit. Beides wuchs stetig. Nicht das Leben, sondern ich selbst stand mir lange im Weg.  Mir kam ein Satz in den Sinn, den ich vor Jahren gelesen hatte: „Ignoranz verringert und manipuliert das Bewusstsein – jedoch nicht das Bedürfnis.“ Damals hatte ich ihn nicht verstanden, heute wusste ich, er hatte recht!
Ich bezahlte meine Rechnung und fuhr nach Hause. Endlich wusste ich, was zu tun war.


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