Ich weiß nicht was genau mich manchmal an ihr so wütend machte. Ich war nie wütend, muss man wissen. Ich bin ausgeglichen und ruhig. Ich schreie nicht.
Als wir letzte Woche Sonntag redeten, war sie ungewöhnlich still. Schon immer war sie nachdenklich, vielleicht war es auch genau das, was mich so an ihr faszinierte. Wenn ich ihr zuhörte war das so, als ob sie ihr Leben schon gelebt hätte. Als ob sie mit Notizbuch und Kuli in der Hand Momente durchstreift hätte, die ich mir nicht einmal in meinen außergewöhnlichsten Fantasien ausmalen konnte. Als hätte sie alles, was man daraus lernen konnte notiert und fein säuberlich aufgelistet.
Wenn sie mit ihrer monomelancholischen Stimme auf mich einredete, konnte sie mir alles weismachen. Sie setzte mir mein schlechtes Ich vor Augen, während es mich anstarrte, als könne es bis auf den Grund meiner Seele sehen und mich mit seinen tonnenschweren Blicken therapieren, mich zu Boden ringen und meine Nase in den Staub drücken.
Wenn sie sprach, fraß sich ihre Stimme tief in meine Erinnerungen und krallte sich in alles, was sie greifen und herausreißen konnte. Sie sortierte, leerte aus und ließ, was ich brauchte, wie in einem zugestellten Dachboden voller Gerümpel, von dem sich niemand trennen kann, obwohl jeder weiß, dass er es nie wieder brauchen wird. Sie war grausam, grausam konsequent, doch in dieser unauffälligen unbemerkten Art. Sie war ganz eigen. Die Leute mieden sie nicht, sondern hielten Abstand, als wäre sie ein Magnet mit gleichem Pol. Sie umschwebten sie in einigem Sicherheitsabstand.
Aber wir. Wir hingen immer irgendwie zusammen.
Manchmal kaum merklich, manchmal so nah, dass ich ihren Erdbeeratem an meinem Hals spürte. Wenn andere gingen, tauchte sie auf. Trat hinter einer Hauswand hervor, lief mir in immer kürzer werdenden Intervallen über den Weg, bis ich wiederkam und jedes Mal ein wenig mehr bereute, dass ich immer wieder ging.
Mehr als ihrer Art mich zu einem besseren Menschen zu machen, stellten sich mir ihre unergründlichen Augen in den Weg. Wenn sie weinte, wurden sie ganz hell; von diesem Schokoladenbraun zu Bernstein und ich hatte Angst, sie würde zerfließen. Ich lebte in Sorge um sie und um mich, um das, was sie aus mir machte und wie wir immer mehr zu etwas verschmolzen, das ich nicht mehr trennen konnte.
Immer, wenn ich versuchte mich gewaltsam von ihr zu lösen, rissen ihre klebrigen Gedanken große Stücke aus meinem Gedächtnis, die ich mit lachenden Mädchen und falschen Freunden stopfte, wie ein zerfleddertes Kissen. Ich wusste, dass ich stets die Wahl hatte. Sie war da, wenn alles brach und vielleicht die einzige, die ich je als meine Freundin bezeichnet habe. Warum sie mir verzieh, wusste ich nicht.
Doch als ich das letzte Mal zurückkam, waren ihre gedankenvollen Theorien über Vertrauen und Ehrlichkeit verebbt, gar vertrocknet. Denn ich wartete auf Flut und sah nur Ufer. Blickte bis zum Horizont über gestrandete Schiffe und Überreste aus an Luft erstickter Wünsche. Wie konnten wir denken, dass Dinge wie diese unvergänglich sind? Unsere Zeit, die uns immer um einige Stunden betrogen hatte, schleppte sich verdurstend dahin und ich begriff, dass nichts für ewig währte. Schon gar nicht bedingungslos.
Sie hatte mich von innen nach außen gedreht, mein Herz rückwärts schlagen lassen. Alles war berechnend gewesen. Sie hat alles gewusst. Alles.
Was sie sagen musste, um das zu erreichen, was sie wollte. Um jeden Tropfen Wut, Ärger, Verzweiflung, Trauer, Glück, Euphorie, Enthusiasmus, Unbeschwertheit, Gedankenlosigkeit und vor allem Ehrlichkeit aus mir zu saugen. Sie brachte alles aus mir heraus, fand empfindlichste Stellen und ungefüllte Augenblicke, die sie mit ihren Küssen brandmarkte.
Wir waren immer ein wenig besonders und sie übertrug ihre dezente Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber auf mich. Auch, wenn sie heute nicht mehr viel sagt ist sie immer noch bei mir.
Wenn ich ihre bernsteinfarbenen Augen mustere, frage ich mich, wie es dazu kam und wie jemand so kleines wie ich jemanden derartiger Härte solchen Schaden zufügen konnte.
Doch sie war Wachs in den Händen der Zeit und der Stetigkeit.
Letzten Sonntag sagte sie kaum etwas, noch weniger, als sonst. Ging neben mir, vergrub die Hände in den Manteltaschen und starrte in den oktobergrauen Himmel.
„Ich verzeih dir“, flüsterten ihre verwelkten Lippen.
Und manchmal weiß man einfach, wann Dinge das letzte Mal gesagt werden.