DER SCHREI

Text

von  souldeep

Illustration zum Text
Schreiverloren
(von souldeep)

Hast du das Kind auch schreien gehört?
NEEEEIIIIIIIIIIN !
Da war es schon wieder...!
Laut, schrill, verzweifelt. Ein Mädchen.
Ganz bestimmt ein kleines noch. Und ihr Schrei wiederholte sich in ganz ähnlichen Tonreihen, laut, herzzrerreißend und hilflos.
Es ging mir durch Mark und Bein. Es wurde unerträglich mit der Zeit, mit dem aufgewühlten Warten auf die Stille; auf dass die Kleine sich beruhigen würde und vor allem keinen Grund mehr zum Schreien hätte!
Aber wieder und wieder zerriss sie die sonst lautlose Nacht...den hereinbrechenden Tag und meine Seelenhaut gleichermaßen.
Ich fiel in tiefere Schichten mit jedem Schrei, er hallte so stark nach, daß wieder eine meiner Häute riß und mich in die Abgründe zerrte...
Hast du das Kind nicht gehört?
Ich bin ganz empört aufgestanden, wollte gerade rausrennen, zu Hilfe eilen - endlich!- und diesem Elend ein Ende machen...
da wachte ich auf.

Erkannte, dass ich dieses Kind nie erblicken würde - und war mir doch ganz sicher, dass es existiert.
Dieses kleine Mädchen, welches sich die Lunge aus dem kleinen Leib geschrien hatte. Laut und immer und immer wieder NEEEEIIIIIIN! rausgekotzt hat.
Die ganze Welt hat sie angeschrien, angeklagt, in die Ecken gedrängt...um endlich für sich einen kleinen eigenen Raum zu beanspruchen. Sie hat sich gewehrt, mit hasserfülltem Blick, mit geballten Fäustchen, mit wutentbranntem Mund, weit offen und laut, unendlich laut krähte sie den Schmerz heraus; erlöste die Ohnmacht, welche sie gekettet hatte...viel zu lange...- Sie klagte an und warf Bäume um in ihrer Rage, die Färbung ihres Gesichtes und ihrer Augen waren so dunkel wie das, was sie aus sich raus ekelte.

Am Ende des Spektaktels wurde ihre Stimme, mittlerweile heiser, milder und weicher - der verletzte und vernichtende Ton verblich und zurück blieb ein kleines Wimmern...ein Trauern nach dem Sturm...ein Fliessen nach dem Orkan.
Was war es nur, was die Kleine derart zum Ausbruch gebracht hatte? Wer war imstande, einem kleinen süßen Mädchen solche Verletzungen zuzufügen? Welcher Unmensch?

WAS?
Ihr eigener Vater? Großvater auch? Und ein Fremder? - Oh, nein! Nicht das! Nicht schon wieder - ich kann´s nicht mehr hören...!-

Ja, und doch geschieht es täglich.

Ja, es ist wahr.
Ein verstockter alter Mann hat den Anfang gemacht. Fromm, unnahbar, mit eigenen Problemen zugedeckt....immer am Kommandieren...
So hat er sich auch am kleinen Enkelkind vergriffen...nein, nicht mit klaren sexuellen Handlungen. Er befahl sie einfach ab und zu auf seinen Schoss, nahm sie (zarter Rücken) an seinen (dicken, unzufriedenen) Bauch (damit er ihr nicht in die Augen blicken mußte) und drückte sie ganz fest...und begann dann zu stöhnen, leise (was sonst gar nicht seine Art war) und wiederholt. Dabei sprach er jeweils kein Wort - immer nur diese Laute.
Das Mädchen fühlte sich stets unwohl, wäre am liebsten schreiend davongerannt - oder noch lieber gar nicht erst in seine Hautnähe gekommen... - aber Gehorsam war gefragt.

Sie kauerte am Boden, als ich mich endlich wieder bewegen konnte...sie weinte ganz einsam und nun konnte ich auf sie zugehen - ich hatte keine Wahl.
Niemand darf ein kleines Kind einsam weinen lassen und daran vorbeigehen...
Niemand.
Aber wir alle tun es.
Wir lassen unser inneres Kind so oft alleine...nehmen es zu selten an die Hand und schon gar nicht in den Arm...

Ach, lass und weinen und klagen und zum heilsamen Fließen zurückfinden...
die weiße Liebe freizuspülen!

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

orsoy (44)
(28.07.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 souldeep meinte dazu am 28.07.05:
Oh, Konni, wenn du wüsstest, wie treu ich dich gerade erlebe - wie trostvoll das für mich ist - da mich dies hier doch arg mut gekostet hat (und es noch tut!).
Danke. Danke dir.
Ich hoffe, es bewegt sich nicht nur die Maus...so klar ist die Botschaft, gell?!
Dir innige Grüsse und mehr, Kirsten.
Cora_Sonn (25)
(29.07.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 souldeep antwortete darauf am 29.07.05:
Behutsam nehme ich dein Anschließen entgegen, weich, ruhig, und sehr sehr dankbar um deine Nähe - gerade hier. Innig, Kirsten.

 mondenkind (29.07.05)
ach liebe kirsten... es muss unvorstellbar schrecklich sein, jahrelang diese szenen durchleben zu müssen.. dass du den mut findest, es jetzt niederzuschreiben, und zu veröffentlichen.. es endlich in die welt zu schreien, das verdient neben der betroffenheit, die ich verspüre, eine menge respekt!! ich wünsche dir, dass dieser schrei dir etwas schweres von der seele nimmt und die erinnerungen irgendwann verblassen dürfen... ich wünsche es dir von herzen.. ein grosser, erster schritt war es allemal... fühle dich lieb gedrückt und bleib stark.. nici

 souldeep schrieb daraufhin am 29.07.05:
Oh, du Liebe, das sind zart-liebe Mondinnenworte....hab lieben Dank. Es tut gut, zu spüren, dass ab und zu jemand hinsieht, hinhört, hinfühlt - und eben liest!
Eine meiner Absichten, diesen Text zu veröffentlichen ist eben, dass das Thema bewusster wird. Nicht meinetwegen - sondern all der Kinder und Opfer wegen... (und auch unserer Mädchen wegen, nicht wahr?!!)
Weisst du, das mit den Wunden ist so eine Sache...sie brechen oft wieder auf, manchmal ganz leicht, auch wenn man glaubt, sie seien verheilt. Aber es ist ein guter Weg, jener, der über die Tiefen in die Höhen und über die Wunden zu den Perlen führt. (Jetzt hab ich doch mehr gesagt, als ich wollte...) Liebevoll, Kirsten.
ponchinello (58)
(01.08.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 souldeep äußerte darauf am 01.08.05:
Innersten Dank, du, die du mir oft schon deine Welt eröffnet...du, die du um so manches weisst...- danke und sei weiter mit mir, ja?! Eben in echter Heilwerdung und -findung...liebevoll, Kirsten.
zackenbarsch† (74)
(07.08.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 souldeep ergänzte dazu am 07.08.05:
Das hab ich mir heimlich ganz stark gewünscht...einfach, weil es nichts mit dir zu tun hat...einfach, weil du der Traum gegen das Trauma bist...nur, weil eine so gestandene Menschenseele schon weiss, wie sie mit solchen "Löchern" umgeht...-
Lieber Friedhelm, du hast mir das grösste aller Geschenke gemacht; im nicht-darüber-hinwegsehen...und ich weiss, es ist schwierig...ich danke, ich danke dir von Tiefen meines Herzens, die ich selber manchmal nicht mehr ahne..- eine besonders heilsam anmutende Nacht wünsche ich dir...ich weiss, du brauchst das! Ganz unaussprechlich verbunden, Kirsten.
zackenbarsch† (74) meinte dazu am 07.08.05:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram