Draußen schneite es immer noch. Seit Tagen ging es schon so. Frau Holle schien unermüdlich ihre Federbetten über der Stadt auszuschütteln. Dicke Flocken fielen vom wolkenbehangenen Himmel, richtig groß und weich sahen sie aus. Die kleine Jolina saß nachdenklich am Fenster. Obwohl sie von zierlicher Gestalt war, hatte sie sich den schweren Sessel selbst dorthin geschoben. Flink ist sie dort hinaufgeklettert und sah nun fast andächtig draußen dem weißen Treiben zu. Weiter draußen konnte sie auch den dicken Schneemann erkennen. Es kam ihr so vor, als wenn er direkt zu ihr herüberschaute. Die rote Möhre und die Kohlenstücke stachen von dem restlichen Weiß der Schneelandschaft richtig ab. Jolina erinnerte sich noch sehr genau daran, wie ihr Vater ihr gestern lachend dabei half, die runden Kugeln, die Jolina aus dem Schnee geformt hatte, übereinander zu stapeln. Sie hatten unheimlichen Spaß miteinander gehabt. Heimlich hatte sie noch aus der Küche einen Topf stibitzt, um dem Schneemann einen Hut aufzusetzen. Und nun stand er da, fast lebensecht. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn er sich zu bewegen angefangen hätte. Jolina schaute wieder zum Himmel hinauf. Dort oben, wo die Flocken aus den dicken Wolken fielen, da musste auch ihre Oma Frieda sein. Oma Frieda starb letztes Jahr für alle unerwartet an einer schlimmen Lungenentzündung. Jolina war über diesen Verlust untröstlich, denn sie hatte ihre Oma sehr geliebt. Immer hatte die gute Seele Zeit für sie gefunden. Ihre Oma konnte die besten Geschichten erzählen, vornehmlich dann, wenn sie nachts an Jolinas Bett saß und wartete, bis ihre Enkelin eingeschlafen war. Sie strickte auch die wärmsten Socken, und sie konnte die besten Plätzchen backen. Eines Abends, als sie so zusammen den Teig kneteten, sagte Oma Frieda: „Jolina Schätzchen, wenn ich mal oben im Himmel bin, dann werde ich die schönsten Plätzchen für alle Kinder auf der Welt backen. Schau, immer wenn der Himmel zur Weihnachtszeit ganz rot wird, dann backen die Engel die Weihnachtskekse“. Jolina war jetzt 6 Jahre alt. Sie wusste genau, was die Oma damals hatte damit sagen wollte. Im Himmel zu sein bedeutete tot zu sein. Jolina hatte große Angst gehabt. Ein Leben ohne ihre Oma Frieda konnte und wollte sie sich gar nicht vorstellen. Sie hoffte, dass ihre Oma für immer bei ihr bleiben konnte und dass sie ihr immer Einschlafgeschichten vorlesen würde. Wie so oft kam es anders. Trotz aller Gebete, die Jolina jeden Abend für ihre Oma aufsagte, blieb sie nicht von diesem schrecklichen Ereignis verschont. Ihre gemeinsame Zeit war viel zu kurz bemessen, aber das ahnte sie damals noch nicht. Und nun saß Jolina hier, schaute wie gebannt in den roten Himmel und dachte an ihre heißgeliebte Oma. Das Leben ging einfach weiter, aber es verging nicht ein Tag, an dem sie Oma Frieda nicht vermisste. Und beten tat sie immer noch für sie, dass es ihr da oben, wo sie jetzt war, gut gehen möge. Morgen war schon Weihnachten. Dann würde es das erste mal Bescherung ohne Oma geben. Jolina seufzte und schloss kurz ihre großen, blauen Kinderaugen. Kleine Tränen stahlen sich aus ihren Augenwinkeln und kullerten über ihre roten Wangen.
Sie hob traurig ihre kleine Hand und winkte zum Himmel hoch. Vielleicht konnte es ihre Oma ja sehen. „Jolina, nun komm, du musst doch ins Bett“, rief ihre Mutter mahnend aus der Küche. „Morgen ist ein großer Tag, und da musst du ausgeschlafen sein!“ Jolina gehorchte brav. Sie kletterte vom Sessel, schob ihn an seinen Platz zurück, und machte sich fertig um schlafen zu gehen. Nachdem sie unter ihre weiche Decke gekrochen war, nahm sie ihren Teddy in den Arm und drückte ihn liebevoll an sich. Er war das letzte Weihnachtsgeschenk, das sie von ihrer Oma Frieda bekommen hatte. Ohne ihn konnte sie nicht mehr einschlafen. Er musste ihr jetzt, wenn auch nur in Gedanken, die Geschichten der Oma erzählen. Ihre Mutter kam zu ihr, deckte sie noch mal zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ geheimnisvoll das Zimmer. „Träum schön mein Schatz, Weihnachtsträume sind was ganz besonderes, denn manchmal erfüllen sie sich“, erklärte sie ihr noch im Gehen. Jolina dachte noch etwas über die Worte ihrer Mutter nach. Dann war sie sich sicher: Ihren Wunsch könnte niemand mehr erfüllen: Sie wollte ihre Oma noch einmal wiedersehen. Einmal mit ihr lachen. In Gedanken sah sie ihre Oma und all die Dinge, die sie gemeinsam erlebt hatten. Wie sie zusammen „Mensch ärgere dich nicht“ spielten, oder lange Waldspaziergänge machten. Immer, wenn Jolina traurig war, verstand es niemand besser als ihre Oma, ihr wieder ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Dafür nahm sie einige Schandtaten in Kauf, wofür sie oft der Tochter strafenden Blick über sich ergehen ließ. Ja, es gab unendlich viele Dinge, die sie am besten mit ihrer Oma machen konnte. Und an all diese dachte sie nun nach. Darüber hinaus fielen ihr irgendwann doch die Augen zu, und Jolina sank in einen tiefen Schlaf.
Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf. Sie vernahm seltsame Geräusche. Etwas klopfte an ihr Fenster. Sie krabbelte aus ihrem warmen Bettchen, schob die rosa Gardine zur Seite und schaute nach. Das gab es doch nicht! Als sie ihre Nase ganz nah gegen die Scheibe drückte, erschrak sie, denn sie sah genau in ein rundes Nikolausgesicht. Sein Schlitten mit den Rentieren parkte direkt schwebend vor ihrem Fenster. Es waren wunderschöne Tiere mit großen Geweihen. Jolina öffnete etwas zaghaft die Fensterflügel um diese einmal zu streicheln. Leider kam sie nicht mehr dazu, denn Nikolaus sprach mit seiner dunklen, tiefen Stimme zu ihr, sodass sie abgelenkt wurde: „Jolina, ich habe hier einen Wunschzettel von dir. Darauf steht, dass du noch einmal deine Oma Frieda sehen willst. Stimmt das?“ Jolina blickte ihn mit großen Augen ungläubig an und nickte. „Ich bin extra den weiten Weg gekommen um deinen Wunsch zu erfüllen“, sagte der Nikolaus weiter, „komm, steig ein und setz dich her zu mir. Der Weg ist noch weit, und wir haben nicht viel Zeit“. Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken kletterte Jolina, nur mit ihrem dünnen Nachthemdchen bekleidet, aus dem Fenster. Sie hätte alles getan, nur um ihre innigst geliebte Oma wieder zu sehen. Ihr kleines Kinderherz hüpfte nur so vor lauter Freude.
Schnell nahm sie neben dem Nikolaus Platz. Fürsorglich legte er ihr eine Lammfelldecke um die schmalen Schultern. Dann knallte er mit seiner Peitsche in die Luft, und die Fahrt ging los. Jolina sah nach unten und konnte die vielen Lichter ihrer Stadt erkennen. Immer kleiner wurden sie, und schließlich waren sie kaum mehr zu erkennen. Es war einfach herrlich! Die Luft war kühl und roch nach Schnee, aber Jolina fror nicht. Der Gedanke an ihre Oma wärmte ihr das Herz. Im Hintergrund bimmelte das kleine Glöckchen von dem Schlitten. Ping, ping, ping. Es war wie ein schöner Traum. Nur nicht aufwachen, sagte sie sich immer wieder. Nicht bevor sie Oma Frieda einmal gesehen hatte. Sie schaute den Nikolaus an. Er hatte wirklich einen langen, weißen Bart und vor sich einen dicken Bauch, der durch einen breiten Gürtel gehalten wurde. Mit seinen blauen, weisen Augen, blinzelte er sie an. Jolina hatte noch nie in ihrem Leben so buschige Augenbrauen gesehen. Sie konnte kaum ihren Blick davon wenden. Jolina wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber auf einmal hielten sie vor einem großen, schweren Holztor. Wie von selbst öffnete es sich, und sie fuhren hindurch und hielten vor einem großen, alten Haus. Aus dem roten Schornstein rauchte es gewaltig.
Es war wie in einem Bilderbuch. Komisch, ansonsten sah hier alles fast so aus wie auf der Erde. „Wo sind wir hier?“ fragte Jolina neugierig und blickte sich begeistert um. „Dies ist mein Zuhause“, sagte der Nikolaus und lächelte sie freundlich an. „Komm, steig aus, ich möchte dir etwas schönes zeigen“. Jolina ergriff die Hand des rotgekleideten Mannes und folgte ihm gehorsam. Zielstrebig gingen sie zur Haustüre, wo Nikolaus dreimal kurz anklopfte. Ein kleiner Engel mit einem weißen Gewand öffnete ihnen mit einem scheuen Lächeln. Er hatte richtig goldene Locken und war fast so groß wie sie selbst. Nikolaus schlurfte an ihm vorbei ins Haus, hindurch bis in die Küche, und Jolina folgte ihm. Sie traute ihren Augen nicht. Dort an dem großen, alten Herd, da stand ihre Oma Frieda! Sie hatte sich kein bisschen verändert. Ihr zusammengeknotetes, graues Haar trug sie immer noch so korrekt wie damals. Und auch der Kittel, den sie mit einer großen Schleife auf dem Rücken zuband, glich ihren auf der Erde. Genau in dem Moment als Jolina sie erkannte, drehte sich die Oma zu ihr um und strahlte sie an. Mit weit geöffneten Ärmchen lief Jolina auf sie zu, und warf sich schluchzend an ihre Brust. Ihr ganzes Gesichtchen war nass von all den Tränen, und sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen. „Oma, meine geliebte Oma, da bist du endlich“. Mit zitterndem Stimmchen kamen Jolina diese Worte über ihre Lippen. Die Oma streichelte liebevoll ihr weiches, braunes Haar. „Hallo mein Kind, mein Schätzchen, es ist so schön, dass du da bist. Ich wollte dir nur einmal zeigen, dass es mir hier oben gut geht. Du warst immer so traurig, das konnte ich von hier oben sehen. Du hast mir vom Fenster aus zugewunken. Siehst du, wie ich dir gesagt habe, backe ich hier beim Nikolaus Plätzchen für alle Kinder auf der Welt. Natürlich auch für dich. Und für dich habe ich sogar ganz besondere gemacht. Weil ich dich so lieb hab, haben sie die Form eines Herzchens, und in der Mitte ist eine rote Füllung aus Erdbeermarmelade. Die magst du doch am liebsten.“ Jolina strahlte. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an ihrer Oma und nahm die herrlich duftenden Kekse nur am Rande wahr. Der Nikolaus stand sichtlich bewegt in der Ecke und beobachtete die rührende Szene. Nach ein paar Minuten jedoch räusperte er sich und gab zu Bedenken, dass sie sich wieder auf den Weg machen müssten. Jolina weinte, sie wollte gar nicht wieder weg, sie wollte hier bei Oma Frieda bleiben. Da sagte Nikolaus mit weicher, beruhigender Stimme: „Jolina, es wird die Zeit kommen, wo du für immer hier mit deiner Oma Plätzchen backen kannst. Das verspreche ich dir, aber das dauert noch. Du musst erst zurück zu deiner Mami. Sie würde doch traurig sein, wenn du sie alleine lassen würdest“. Dieses sah Jolina natürlich ein. Das wollte sie nicht. Sie drückte ihre Oma noch mal ganz fest und gab ihr einen feuchten Schmatzer auf die welke Wange. „Ich komme wieder Oma, ganz bestimmt. Warte hier auf mich, ja?“ Die Oma lächelte und tätschelte liebevoll Jolinas Hand. „Ja, ich warte hier, ganz bestimmt. Pass gut auf dich auf mein Kind“.
Nikolaus nahm sie wieder bei der Hand, und führte sie in den Wagen zurück. Die Rentiere scharrten schon ungeduldig mit den Hufen, als hätten sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, endlich wieder laufen zu können. Diesmal streichelte Jolina diese stolzen Tiere vorsichtig, bevor sie von Nikolaus in den Wagen gehoben wurde. Jolina kuschelte sich in ihrer warmen Decke ein und lehnte sich an seine breite Schulter. Nikolaus legte liebevoll den Arm um sie und zog sie noch dichter an seine warme Jacke heran. Jolina war schrecklich müde und schlief augenblicklich tief und fest ein.
Als sie wieder erwachte, war es heller Morgen, und sie lag zu Hause in ihrem Bett. Sollte das alles etwa doch nur ein Traum gewesen sein? Unendlich traurig stieg sie aus dem Bett und ging zu dem Weihnachtsbaum. Ihre Eltern hatten ihn wohl in der Nacht noch mit Kugeln und Lametta behängt. Nie bekam sie davon auch nur das geringste mit. Sie taten es immer heimlich, um Jolina nicht den Glauben an das Christkind zu nehmen. Dabei wusste sie doch schon längst Bescheid. Trotzdem wollte sie wiederum ihre Eltern nicht enttäuschen und spielte ihnen Ahnungslosigkeit vor. Der Baum war prächtig geschmückt, aber Jolina konnte sich nicht so recht freuen. Der Traum fiel ihr wieder ein. Er war so schön gewesen, so wahr, sie hatte wirklich geglaubt, sie hätte ihre Oma Frieda gesehen. Bei dem Gedanken rollten ihr wieder ein paar Tränen über die Wange. Wieder sah sie alles ganz genau vor Augen, die ganze Begegnung, und sie konnte doch fast noch fühlen, wie sich das Fell der Rentiere unter ihren Händen anfühlte. Das konnte sie sich doch unmöglich alles nur eingebildet haben.
Jolina stand immer noch fassungslos im Wohnzimmer. Durch ihren verschleierten Blick sah sie unter dem Baum eine seltsam, glänzende Tüte mit einer roten Schleife liegen. Langsam schlurfte sie mit ihren Puschen dorthin und nahm diese ganz vorsichtig in ihre kleinen Hände. Mit geschickten Fingern öffnete sie die Schleife. Dann schaute Jolina gespannt hinein. Ihre Augen erblicken ein paar herrliche Plätzchen. Sie waren in Herzchenform und mit Erdbeermarmelade gefüllt. Glücklich hielt sie die Tüte unter die Nase und sog den schönen Duft tief in sich hinein. Jolina strahlte. Ja, heute war Weihnachten!!!
Schnell schob sie wieder den schweren Sessel vor das Fenster, stieg hinauf und schaute zum Himmel hoch, aus dem immer noch schwere Flocken auf die Erde fielen. Jolina winkte mit beiden Armen und warf viele Kusshändchen hinauf. Sie wußte jetzt ganz genau, dass dort oben hinter den Wolken ihre Oma Frieda war und sie hier unten sehen konnte.