Dienstags bei Inge

Ansichten übers Leben und Sterben und den Rest dazwischen


Eine archivierte Kolumne von  IngeWrobel

Sonntag, 06. Dezember 2009, 01:54
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Emotionale Intelligenz

Vor etlichen Jahren hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Emotionale Intelligenz“, manchmal auch nur „E.I.“ genannt. Man befand, dass ich diese wohl besitzen müsse, weil ich Dinge verstand, ohne sie gelernt zu haben. Ich konnte Gedankengänge nachvollziehen, Zusammenhänge erfassen, logisch Schlussfolgern – ohne das je studiert zu haben. In meinem menschlichen Umfeld, welches überwiegend aus Akademikern bestand, war das sehr hilfreich. Es war nützlich im Berufsalltag, weil ich eine schnelle Auffassungsgabe hatte, und im Privatleben nicht weniger, weil ich auch da von klugen Menschen umgeben war.
Darüber, woher diese E.I. kam, beziehungsweise wodurch sie sich entwickelte, dachte ich nie nach. Ich ging wohl davon aus, dass meine Fähigkeiten genetischen Ursprungs sein müssten und deshalb von Beginn an latent vorhanden waren.
Inzwischen erfuhr ich, dass das, was man unter E.I. versteht, etwas anderes ist. Die Betonung liegt auf „emotional“. Es geht dabei gar nicht um das Erfassen von logischen Abläufen, nicht um Denkprozesse, sondern um ein gefühlsmäßiges Begreifen, die Befähigung zur Empathie.
Diese Fähigkeiten und ihr Einsatz wurden bisher stets sehr unwissenschaftlich „im Bauch“ angesiedelt. Musste eine Aktion oder Reaktion lokalisiert werden, so fiel uns nichts besseres ein, als zu sagen, die komme „aus dem Bauch heraus“. Gefühle haben wohl ihre Heimat so lange im Bauch, bis die Forscher uns das Gegenteil beweisen.
Dieses scheint nun tatsächlich gelungen zu sein. In einer interessanten Rundfunksendung wurde dem Hörer mitgeteilt, dass Emotionale Intelligenz nicht im Bauch, sondern im Kopf entsteht – und zwar durch besondere Nervenzellen, die sogenannten „Spiegelneuronen“.
http://www.swr.de/contra/programm/-/id=1285138/nid=1285138/did=5701178/55p7nr/index.html
Spiegelneuronen bewirken ein Nachahmen beim Betrachter. Zum Beispiel den Gähnreflex, wenn wir einen anderen Menschen herzhaft gähnen sehen. Auch spontanes Mitfühlen von Emotionen anderer wird durch die Spiegelzellen freigesetzt – es entsteht ein gemeinsamer emotionaler Nenner. Fachleute nennen das „Social Braining“. Manch guter Tormann „erfühlt“ die Ecke, in die der Elfmeterschütze den Ball versenken will, indem er dessen Gesichtsausdruck genau „studiert“, also den augenblicklichen emotionalen Zustand des Gegenspielers simultan erfasst.
Bei E.A. Poe taucht das Phänomen einer hochentwickelten Empathie in verschiedenen Geschichten auf. Besonders gut beschrieben wird das auf den ersten Seiten der Erzählung „Der Mord in der Rue Morgue“. Was dort beschrieben wird, grenzt beinahe an Hellseherei, und ich denke, dass hier ein Übergang von empathischem Erfassen zum psychologischen Erkennen stattfindet, ein Lesen der Gedanken des Anderen.
Um in dem Genre zu bleiben: Ist das nicht auch das Beglückende an „Seelenverwandtschaft“ – die Freude, einen Dichter und sein Werk zu erkennen, zu erfassen, als hätten wir es selbst so und nicht anders geschrieben?!

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

wortverdreher (36)
(08.12.09)
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 IngeWrobel (08.12.09)
Ja, hätte ich können - aber die Beispiele waren mir zu simpel.
wortverdreher (36)
(08.12.09)
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 IngeWrobel (08.12.09)
Es hat einen großen Vorteil, eine Kolumne zu schreiben über eine neue wissenschaftliche Erkenntnis innerhalb einer Wissenschaft, die empirisch noch gar nicht untermauert/gefestigt ist.
Selbst eine Koryphäe wie Howard Gardner, der "die" Intelligenz in neun verschiedene Schwerpunktbereiche einordnet, lässt die emotionale Intelligenz "außen vor" - ignoriert sie.
Rizzolatti, Goleman und Ursula Dachs z.B. haben Bücher darüber geschrieben.
Mein obiger Beitrag geht auf die Kernfrage nicht ein - wie könnte er auch? Ich nahm nur mit Erstaunen zur Kenntnis, dass nun Wissenschaftler den "Sitz" der E.I. in den Spiegelneuronen gefunden haben wollen, die bisher ausschließlich für den Nachahmungstrieb verantwortlich gemacht wurden.
Ich selbst definiere die E.I. als eine Mischung aus intellektueller Lernfähigkeit und Empathie. Aber so wenig diese Interpretation wichtig ist, so wenig kann mir jemand das Gegenteil beweisen.
Und zu Deinem Beispiel, meine liebe Sappho möchte ich anmerken: Unsere Vorzeige-Laufsteg-Heidi mag zwar kein Abur haben und vielleicht auch nicht intellent sein, aber wie will man ihre Geschäftstüchtigkeit in Sachen Vermarktung der eigenen Person und Familie anders begründen, als mit einer gehörigen Portion emotionaler Intelligenz?! (... man kann es auch Cleverness, Schlauheit o.ä. nennen ...)
@ wortverdreher: so simpel, wie Du es siehst, ist es sicher nicht: frag mal Jens Lehmann.
wupperzeit (58)
(08.12.09)
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