andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 26. August 2009, 22:02
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Caster Semenya

Bei der Weltmeisterschaft der Leichtathleten gab es in diesem Jahr mal wieder einen kleinen Skandal, der seltsamerweise gar nicht so in der Gesellschaft angekommen ist, wie es zu erwarten gewesen wäre. Caster Semenya startete im 800-Meter-Lauf der Frauen und gewann überragend. Praktisch sofort danach kam die Frage auf: ist Caster Semenya vielleicht ein Mann?
„Gesichtsschnitt und Körperbau scheinen darauf hinzuweisen,“ wiegelten die ersten ab – und fühlten sich dabei vermutlich sogar weise und diplomatisch, „wir müssen erst weitergehende Tests durchführen, um das mit Gewissheit ausschließen zu können.“ (bei Kugelstoßerinnen fragt danach kaum jemand)

Es ist eine heikle Sache, die momentan eine der konservativsten Säulen unserer Gesellschaft umspült (= die Gruppe der ehrenwerten Sportler). Noch vor kurzer Zeit tobte das Schreckgespenst Doping durch die Stadien und Arenen, die letzte Korruption und Schieberei ist noch nicht völlig vergessen, jetzt ist da plötzlich der Geschlechtsbetrug.

Dabei ist es doch so einfach! – Männer sind männlich und Frauen sind weiblich. So muss es sein, denn so wird beim Sport schon im Kindesalter unterschieden.
Allerdings ist die Angelegenheit mit dem X- und Y-Chromosom im konservativem Sportgewerbe nur eine theoretische Größe. Daran ändert auch nichts, dass es ab 1968 einen Geschlechtstest bei den olympischen Spielen gab, der nach knapp 32 Jahren wieder eingestellt wurde. Es war nämlich ein Politikum gegen die osteuropäischen Sportverbände und kein ernst gemeinter Test. In Wahrheit sind die Funktionäre auch heute noch fest davon überzeugt, dass es den Sportlern und Sportlerinnen anzusehen sei …

Ein anderes Politikum ist übrigens, dass die meisten fraglichen Fälle unter den Teppich gekehrt werden. Nur zwei Namen lugen unter dem Bodenbelag hervor: Santhi Soundarajan (der nach den Asienspielen 2006 die Silbermedaille aberkannt wurde) und Stella Walsh (bei der erst nach ihrem Tod 1980 festgestellt wurde, das bei der Olympiade 1932 keine “echte“ Frau die Goldmedaille im 100-Meter-Lauf gewonnen hatte).
Stattdessen wird so getan, als sei Caster Semenya ein einmaliger Ausnahmefall. Ja, sogar der Vorwurf des Betrugs schwebt im Raum … auch oder gerade weil immer wieder betont wird, dass Caster Semenya keine Schuld daran hätte (also muss doch jemand dafür verantwortlich sein, nicht?).
Die Presse stürzt sich begierig auf die arme Familie und zeigt den Vater, der ängstlich mit der Geburtsurkunde wedelt. Ganz nebenbei wird erwähnt, dass Caster Semenya aus dem Nichts kam und vor der Weltmeisterschaft bei kaum einem Wettkampf war (was für 18-jährige Südafrikanerinnen aus ärmsten Verhältnissen und mit dunkler Hautfarbe nicht ungewöhnlich sein dürfte).

Seit dem Rennen in Berlin ist jetzt fast eine Woche vergangen und noch immer liegen keine Ergebnisse auf dem Tisch. Warum dauert ein simpler Test so lange, wenn doch nur geschaut wird, ob ein Y in den Zellen zu finden ist? Könnte es sein, dass es dieses Mal nicht mit dem Heben des Teppichs und einem Wisch mit dem Handfeger getan ist?
Die Medizin kennt schon lange die Chromosomenanordnung XXX, XXY und XYY, aber auch das recht häufige Turner-Syndrom (Frauen mit nur einem X-Chromosom) und sogar Fälle mit mehr als drei Geschlechtschromosomen. In den meisten Fällen liegen zwar Berichte über spezielle Merkmale dieser “Fehlentwicklung“ vor, aber die gelten nur für auffällig gewordene Menschen. Seriöse Schätzungen sprechen davon, dass mehr als 90 % der Betroffenen nie auffällig werden, unerkannt bleiben und ein normales Leben führen.

(In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass die bekannte Studie über die hohe Zahl der XYY-Männer in der Kriminalitätsstatistik schon lange widerlegt ist. Oder anders ausgedrückt: Sie ist ein moderner Mythos. – Oder noch besser ausgedrückt: Sie ist Quark mit Soße.)

Neben diesen Abweichungen gibt es noch die interessanten Fälle der XX-Männer und XY-Frauen (dem Swyer-Syndrom), die außer einer (vermutlich!) typischen Unfruchtbarkeit keine erkennbaren Unterschiede zu den “Normalos“ zeigen. Nicht einmal die Gründe für diese Entwicklungsstörung sind bekannt; es wird wild gemutmaßt und geraten.
Sprich: selbst die beste Untersuchung spiegelt nicht das genetische Ziel(?) wieder.

Das Ganze nennt sich Intersexualität und darf nicht mit Transsexualität verwechselt werden, bei der sich Menschen in einem Körper mit dem falschen Geschlecht befinden. Intersexualität ist ein rein biologisches Phänomen, das durch die heutigen Erklärungsversuche nur unvollständig erfasst wird.
Und: Intersexualität ist weitaus häufiger als Transsexualität. Die Betroffenen führen in der Regel ein völlig normales Leben, definieren sich fest in eine der beiden Schubladen (Mann oder Frau) und nehmen unbefangen an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teil. Dazu gehören auch die Leistungssportarten.
Ernstzunehmende Schätzungen gehen von einer Rate von einem Prozent Intersexuellen bei Frauen und Männern aus. Allerdings testet der übliche Geschlechtstest nur das Vorhandensein des Y-Chromosoms und hat somit keine Chance die “Trippel“ und “Solos“ zu finden. Bei den XX-Männern und XY-Frauen versagt er jedoch, weil er eindeutig das Falsche anzeigt.

Es ist (noch?) nicht geklärt, was bei Caster Semenya zutrifft. Aber ganz abgesehen davon, ob sie jetzt “normal“, “intersexuell“ oder was auch immer ist: die Frage nach der Einteilung in Männer und Frauen wird bleiben – und dennoch immer zweifelhaft sein.
Dabei steckt ein so großes finanzielles Potential hinter dem Ganzen. Beim Boxen und Ringen gibt es Gewichtsklassen, Fußball wird in Altersklassen gespielt und selbst für Behinderte hat man sich Unterteilungen ausgedacht. Warum nicht auch Swyer-Syndrom-Weltmeisterschaften? Oder die Olympiade der Supermaskulinen?

Oder führt das nur wieder zu neuen Vorurteilen?


Links:
 SPIEGEL.de
 BILD.de
 YAHOO
 Wikipedia: Intersexualität
 Wikipedia: Stella Walsh
 alte und langweilige Kolumne



Andreas Gahmann

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