KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Mein kv - 4. darkjoghurt
747. Kolumne
4. darkjoghurt
Daniel war noch recht jung, als ich ihn 2005 auf kv kennenlernte, er studierte noch Jura, während ich langsam dem Ende meines Arbeitslebens entgegenging. Zunächst kam es zum virtuellen Gedankenaustausch in den literarischen Diskussionen im Forum. Bevor ich ihm persönlich begegnete, lernte ich seine spätere Frau kennen, und zwar auf dem legendären kv-Treffen 2006 in Artern. Da nannte Mandy sich LunAe, und sie ist noch immer, jetzt unter einem anderen Pseusonym, bei kv – genauso wie Daniel, der ein anderes Pseudonym annahm, bevor er beruflich tätig wurde. (Es gibt wohl einige, die bei kv ausstiegen, weil sie in ihrer beruflichen Tätigkeit entweder keine Zeit mehr hatten, Texte zu schreiben, oder die nicht als Schreibende im Internet entdeckt werden wollten – denn wer dichtet, macht sich in den Augen vieler lächerlich oder wird sogar angreifbar; und das ist der entscheidende Grund, ein Pseudonym zu wählen.)
darkjoghurt schrieb damals experimentelle Prosatexte, manchmal waren sie künstlerisch provokativ, und die Genregrenzen waren fließend – es konnte Lyrisches mit Prosa, teils auch Bildern, gekreuzt sein.
Lyrik ist ein weites Feld. Schwer zu sagen, wo es anfängt, wo es aufhört. Wo ist die Grenze zur Prosa, wenn der Begriff der an Metrum und Reim „gebundenen Sprache“ sich schon längst aufgelöst hat? So gesehen haben wir die verschiedensten Lyrik-Kulturen: Streng gefurchte Sonettbeete (es flocht so mancher auf kv schon einen Sonett-Kranz, Elias schrieb den ersten ...), brav und manchmal kühn gereimte Strophengedichte in starker Anlehnung an frühere Epochen, vor allem Romantik und spätromantische Metaphorik zur Zeit des Realismus (über 100 Jahre zurückliegend!), aber auch angelehnt an die Zeit des Symbolismus, die Rilke-Zeit, und immer wieder auch den Gedichten des Expressionismus verwandt – und dann gibt es die immer noch waghalsigen Onomatopoeten (Klangdichter, manchmal neigte jovan.j dazu), die Autoren neuer konkreter Poesie – und es gibt viele viele prose poems (Prosagedichte), die oft identisch mit inneren Monologen sind, lange und kurze, oder aber ganz freie Texte, die sich gar nicht richtig bestimmen lassen in dem weiten Feld, sie sind eine Art Feldrandgewächse.
Hier nun ein kleines Beispiel für Miniprosa:
an regentagen ruhig mal gefühle zeigen
"Ich lass Dich nicht im Regen stehen -" flüsterte ich ihm in die Handbremse - "ich lass dich nicht alleine." Dann trug ich das Fahrrad behutsam in mein Büro. Liebe.
Ach – diese paar Zeilen sind für mich ein Gedicht, da werden Zeilen zu Versen. Sie reimen sich nicht, sie haben kein Metrum, kaum einen regelmäßigen Rhythmus – aber eine wunderbar neue Metaphorik, die über das Gedicht (über das metaphorische Ding, das Fahrrad) hinauswächst. Zu Beginn ist das Subjekt der Zuneigung ein Objekt, aber schnell wächst das scheinbar Nüchterne ins Bild: „Ich lass dich nicht im Regen stehen“ ist doppeldeutig – das wird immer deutlicher, wenn man weiterliest: „… flüsterte ich ihm in die Handbremse“ – hier wird die Handbremse zum Ohr der Geliebten. Der Liebende wendet sich an ihr Herz, an ihre Seele. Oder ist es noch viel mehr als das? Er stellt die Geliebte nicht einfach ab, er überlässt sie nicht der klaglos zu erleidenden Einsamkeit, er verlässt sie nicht, sondern er spricht so zärtlich mit ihr, dass der Leser geneigt sein könnte, es gehe im Büro vielleicht sogar um eine intimere Fortsetzung der Liebe. Klar, Ironie der Distanz schwingt mit. Liebe ist so direkt heute kaum noch sagbar, ohne Authentizität zu verlieren. Rückwirkend wird das Wetter, der Regentag, zu einem seelischen Begriff: Gemeint sind kommunikative Situation, Stimmung und Gemüt. Die existentialistische Ebene wird mit dem Satz erreicht: „ich lass dich nicht alleine.“ Diese neue Formulierung des Beginns ist viel mehr als eine deutende Variation. Mit dem letzten, elliptischen, Satz („Liebe.“) werden die nüchternen Worte endgültig zum subtil ironischen Liebesgedicht oder gar zu einem Gedicht über Liebesgedichte! Das ist toll gemacht.
Sagt mir nicht, der junge Dichter habe das so gar nicht intendiert – es ist völlig egal, was er dachte, wichtig ist, was ich lese! Und sagt mir nicht, ich wollte euch mit dieser Analyse verarschen – das würde ich nie tun, denn dann würde ich mich ja selbst betrügen.
Daniel hat irgendwann (ich erinnere mich nicht mehr) die aus Thüringen stammende LunAe-Mandy kennengelernt und bald kam sie zu ihm in den Westen. Inzwischen korrespondierten Daniel und ich vor allem per Mails. Ich erfuhr nun, dass er ein glühender Hörer der so genannten E-Musik ist, er kennt Komponisten von Bach bis heute. Er überzeugte mich, sämtliche Kantaten Johann Sebastian Bachs zu hören, ein Unternehmen, vor dem ich mich zeitlebens scheute, obwohl ich Bach schätze und liebe und ansonsten alle seine wesentlichen Werke kenne. Es wurde ein Erlebnis für mich!
Wir schrieben uns vor allem in den Jahren 2010-2017 Dutzende von Mails – meistens über Musik und Literatur. Hier ein Beispiel:
„Hallo B.
Ich würde gerne musikalisch mehr open minded werden und hab deswegen zB vor, mir zu kaufen:
- MUSIK IM 20. JAHRHUNDERT - DIE REVOLUTION DER KLÄNGE VOL. 1-7: ZU NEUEN UFERN. ZWEITAUSENDEINS EDITION DOKUMENTATION 02/TEIL 1-7.
Vorgestellt von Sir Simon Rattle. Mit Musikbeispielen aus: Wagner/Ouvertüre zu "Tristan und Isolde", Schönberg/Verklärte Nacht, Mahler/Sinfonie Nr. 7, Strauss/Elektra, Berg/Violinkonzert u. a. Strawinsky/Le Sacre du printemps, Reich/Music for piece of wood, Boulez/Rituel in memoriam Bruno Maderna, Varèse/Ionisation, Ligeti/Atmosphères, Mahler/Das Lied von der Erde u.a. Debussy/Prélude à l'après-midi d'un faune, Strawinsky/L'oiseau de feu, Schönberg/Fünf Orchesterstücke op. 16, Boulez/Notations, Ravel/Daphnis et Chloé u.a. Bartók/Herzog Blaubarts Burg, Schostakowitsch/Sinfonie Nr. 4, 5 & 14, Lutoslawski/Sinfonie Nr. 3, Konzert für Orchester u.a. Gershwin/Rhapsody in Blue, Ives/Decoration day, Cage/First construction in metal, Carter/Celebration of some 100 & 150 notes, Adams/Harmonium, Copland/Appalachian Spring, ...
Aber ich bin gerade wieder ein mainstreamiger Stinkstiefel und höre nur na ja mainstream. Magst Du Musicals? Ich habe dieses eine gesehen - Sweeney Todd und auch auf DVD. Aber so richtig ist es nicht meins.
Parsifal fand ich live ganz beeindruckend, aber auf Platte ist er mir zu ... langatmig. Tristan ist natürlich immer toll. Elektra ist eh die beste Oper. MRR meinte mal, Strauss habe den Hofmannsthal-Text so überkomponiert, dass ihn keiner kennt und sieht, wie toll er ist. Letztlich habe Strauss Hugo von Hofmannsthal verhunzt. Was für ein Unfug. In MRRs Kopf geht einiges durcheinander.
Ich habe die Streichquartett-Box von Schostakowitsch hier stehen. So ganz hat mich das nicht umgehauen, wie auch die Sinfonien, die ich kenne. argot ist ja großer Fan von Schosta.
Lese nun noch meinen Keegan fertig und schlafe dann verdient ein. Gruß
d.“
Hier ein anderer Brief – über schulische Literaturerlebnisse:
„Lieber Uli,
im Deutschunterricht haben wir gelesen:
- Die Judenbuche (hab ich nicht verstanden)
- Die Entdeckung der Langsamkeit (gefiel mir)
- Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle (gefiel mir auch)
- Taugenichts (gefiel mir auch)
- Werther (etwas überreagiert - klar, dass kein Geistlicher seinem Sarg folgt; mir etwas fern der Goethe)
- Faust I (hab ich auch nicht richtig verstanden)
- Gerechtigkeit für Serbien (Handke - würg)
- Das Parfüm (war ganz unterhaltsam - aber musste ich so leider ein zweites Mal lesen)
- Leonce und Lena (fand ich einen guten Humor)
- Damals war es Friedrich (kann ich mich nicht dran erinnern, aber das Thema ergab bei staunenden Mirschülern immer Betroffenheitspunkte; ich war schon zu aufgeklärt dafür)
- Erdbeben von Chili (ah! das war super)
Mehr erinnere ich gerade nicht. Ich habe jedes Mal, wenn in der Oberstufe nach Vorschlägen gefragt wurde, Thomas Mann vorgeschlagen. Ich wurde aber nie erhört. ...
Ich habe jetzt noch mal 60 Seiten im Zauberberg gelesen. Kafkas SCHLOSS und Kästners GANG VOR DIE HUNDE lagen zwar schon bereit. Aber irgendwie bin ich doch wieder zum Zauberberg gekommen. Vielleicht musste ich wieder an ihn denken, weil der SPIEGEL Kruso einen zweiten Zauberberg nannte. So ein Quatsch ärgert mich immer. - Ich bin noch nicht sicher, ob ich Zauberberg jetzt von vorne bis hinten lesen werde. Eigtl. wollte ich nur ein paar ausgewählte Kapitel lesen. Aber dann liest mein Vater auch mal wieder Zauberberg und schwärmte von dem Anfang. Und dann habe ich auch von vorne begonnen. Ich finde also wieder, TM steht über den anderen Autoren. Aber das wollte mein Deutschlehrer nie akzeptieren.
Aber auch wenn Kafka dann weniger aktuell ist - was meinst Du, dass Kafka seine Sexualität nicht verstand? Er hatte welche, nehme ich an - und nachher hat er sich geärgert, weil das alles nicht groß anders war als Bespringen von Hunden?
Habe mir dann Gedanken gemacht, welche Werke ich auf die einsame Insel mitnehmen würde - je Top-Komponist nur eine. Einigermaßen gebrainstormt und halb-reflektiert kam dabei heraus:
Bach - Goldbergvariationen (Glenn Gould)
Mozart - Klarinettenquintett (Emerson Quartet)
Schubert - Streichquintett, Leipziger Streichquartett (oder Große Sinfonie in C-Dur mit Furtwängler?)
Wagner - Tristan und Isolde (Furtwängler) (oder Götterdämmerung unter Solti?)
Beethoven - Siebte Sinfonie Furtwängler (1944) (oder 4. oder 5. Klavierkonzert mit Leitner/Kempff oder op. 111mit Gulda?)
Strauss - wohl Elektra (Solti)
Schumann - Sinfonische Etüden (Pogorelich) (vor Kreisleriana (Horowitz oder Kempff) und Toccata nur mit Svjatoslav Richter wegen der "Schumannschen Schatten")
Chopin - erste Ballade (Horowitz)
Brahms - Violinkonzert mit Ginette Niveu an der Geige (oder 2tes Klavierkonzert mit Rubinstein am Klavier?)
Bruckner - Achte Sinfonie unter G. Wand
Habe die Auswahl schwer empfunden - wenn ich mehr mitnehmen dürfte, könnten auch dazukommen:
Strauss - Salome (Solti) und Till Eulenspiegel (Solti)
Mozart - Don Giovanni (Giulini) und Sonate B-Dur KV 333 (Gulda),
Bach - h-Moll-Messe (Gardiner), Matthäuspassion (Jacobs oder Harnoncourts letzte), die Top-Kantaten BWV 198 (Harnoncourt), 12 (Koopman), 106 (Koopman), 8 (Herreweghe), 131 (Koopman), 21 (Richter wg. FiDi), 56 (Richter wg. FiDi), 80 (Herrweghe) und das Musikalische Opfer (Musica Antiqua Köln), die Dorische Toccata (Koopman) und die Passacaglia (Koopman), An Wasserflüssen Babylon (Koopman), Ich ruf zu Dir (Koopman) und Alle Menschen müsen sterben (Koopman),
Beethoven - Eroica (Gardiner) und op. 95 (Emerson Quartet),
Schubert - Klaviertrio B-Dur (Trio Fontenay) und Lindenbaum (FiDi),
Chopin - Barcarolle (Rubinstein) und Préludes (Cortot; oder Scherzo No. 1, Horowitz)
Einfach ist das nämlich nicht, nur ein Werk zu nennen. Am schwersten fällt es mir (vgl. oben) bei Bach. (Weil er der Beste ist!) Zum Glück muss man sich nicht beschränken! Bruckners Sinfonien mag ich zB von 5 - 9 und Brahms von 1., 2., 4. Vor allem die Erste hat es mir angetan.
Ich habe eine weitere Liste gemacht mit Musik, die ich im neuen Jahr gerne hören will. Bzw. ich bin dabei. - Welches Shostakowitsch-Quartett findest Du am besten?
Und: Ich las einen Aufsatz über Bukowskis Liebe zur klassischen Musik. sehr interessant.
Sehr instruktiv und hier abrufbar: http://www.bukowski-gesellschaft.de/21-musicbuk.htm
Das Gedicht "Klimax" hätte aber, m. E. ruhig in voller saftiger Länge aufgenommen werden können:
Ich war irgendwo...irgendwo in
Europa...2. Aufzug, 2. Szene,
Siegfried...
das ganze Gebäude wankte,
Feuer brach aus,
Weltuntergang,
Leiber flogen durch die Luft
wie verrückte Clowns,
das Orchester hörte auf
zu spielen...
„DIE BOMBE!“ schrie
jemand, „DIE BOMBE!!!“
die Bombe die Bombe die Bombe
die Bombe.
Ich packte eine dicke
Blondine,
riss ihr das Abendkleid
runter,
Götterdämmerung!
„Ich will nicht
sterben!“ kreischte
die Blondine. Das ganze Opern-
haus stürzte über uns
zusammen. Blut auf dem
Boden. Flammen.
Rauch. Qualm. Geschrei. Es war
entsetzlich. Ich steckte ihn
rein.
-
Bombastisch, oder?
d.“
Ich habe mich mit Daniel und Mandy einmal in der Kölner Philharmonie getroffen, es wurde das 5. Klavierkonzert von Beethoven gespielt. Danach gingen wir noch in ein Brauhaus.
Wenig später schrieb er mir, dass er und Mandy geheiratet haben – Fotos lagen im Postbrief dabei.
Auch zufällig trafen wir uns mal – in der Bonner Bundeskunsthalle, ich habe aber vergessen, welche Ausstellung es gab. Jedenfalls war nun schon das erste (von zwei) Kindern geboren und war mit in der Kunsthalle und im Restaurant, wo wir uns begegneten und angeregt über die Kunst unserer Zeit unterhielten.
-
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
https://www.keinverlag.de/432434.text
https://www.keinverlag.de/423232.text
ich werde die Stelle ändern - bei Elias erwähne ich ja selber, dass er einen Sonettkranz schrieb. Die von dir erwähnten Sonettkränze sind allerdings erst 2018 und 2019 entstanden. Andererseits: Weder Sonette noch deren Kränze sind verlässliche Qualitätssymptome
FnJ!
Uli
Und der verblasst oder wird abgelöst oder überdeckt durch nachfolgende Anfänge, die auch ihren Zauber hatten und wieder verblassen. C'est la vie.
Bach-Jünger, die eine gewisse Kulturarroganz haben, und die gab und gibt es, mag ich nicht, oft sind solche Fans zu ausschließlich auf Bach konzentriert, während die Ohren meines musikalischen Herzens auch geöffnet sind für Frank Zappa, Stockhausen, Piazzola, Operetten und Chansons ...