KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 01. Juli 2024, 22:23
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Eine China-Lesung

849. Kolumne

Die Lesung am Samstag im Haus an der Redoute war in sich stimmig (literarisch/belletristisch/chinafreundlich) und gelang gut. Viele Besucher! Man musste noch Stühle dazustellen.
Gast war auch eine Studentin, die gerade aus China kam - von einer sehr südlichen Uni. Yan Xiaodong. Meisterstudentin von Zhang Yang, die ich in Bonn letztes Jahr traf (Probleme des Übersetzens/Rezeption von Übersetzungen). Xiaodong, der ich von der Veranstaltung erzählt hatte, brachte eine ganze Gruppe von Mitstudentinnen mit. Morgen sehe ich sie wieder - im Café Fürst. 
Ich las meine Übersetzung von Yang Lian, Die Höhe des Traums; ich sprach von meinem Kurs KAFKA UND DIE MODERNE und den Interpretationsleistungen der Studentinnen; und ich las zwei Mond-und-Sauf-Gedichte von Li Bai. Geradezu sensationell war für mich war Lyu Shuwen an der chinesischen Harfe (Erhu) mit der sowohl zeitgenössischen als auch traditionsorientierten Musik von Gu Zheng.
 
Nach der Lesung lernte ich Wulf Noll kennen ... er hat viel geleistet in Japan und China. Es gefiel mir, als er über die sich abzeichnenden weiteren Restriktionen von chinesischer Seite referierte, was deutsche Dozenten in Qingdao und woanders betrifft. Da fiel mir nun auf, dass unsere Lesung wieder mal ganz literarisch/belletristisch war – unkritisch gegenüber der chinesischen Lebenswirklichkeit. Dabei gäbe es da viel zu sagen.
Unser Thema hieß „Vom Morgen bis zum Abend - vom Abend durch die Nacht, China. Ein Tag“. Ein Tag in China müsste ja auch das Alltagsleben in seiner politischen Relevanz widerspiegeln. Mich bedrängt der ungesagte Vorwurf, wir hätten dem Konfuzius-Institut zuliebe oder aus Unkenntnis oder gar Ignoranz alles mißliebig Politische 
weggelassen. In der Tat kam politisch in unserer Lesung so gut wie nichts vor. Ich fühle mich dem moralischen Anspruch, China kritisch zu sehen und zu beschreiben, nicht zwanghaft ausgesetzt - andererseits fände ich es gut, wenn wir - egal in welchem Organisationsrahmen - auch eine Lesung veranstalteten, in der das zu Wort kommt, was wir kritisch sehen, schon im Hinblick auf die jungen Chinesinnen, deren Wissen und Bewusstsein in Sachen Politik und Ideologie zu einem guten Teil recht reduziert ist. In meinem China-Bericht, den ich in der MATRIX 2014 veröffentlichte, habe ich dazu schon einiges ausgeführt. Nach den Besuchen von Chinesinnen (Studentinnen und Wissenschaftlerinnen) in den letzten Jahren in Bonn fiel mir zunehmend auf, wie krass das Nichtwissen oder Verschweigen und Verdrängen ist. Trotzdem hatte ich über Politik mit den Chinesinnen gesprochen. Besonders firel mir auf, wie intensiv die bei mir übernachtenden Chinesinnen mein (teils in chinesischen Zeichen gedruckten) Bücher über Mao Zedong und die sogenannte Kulturrevolution bis in die tiefe Nacht lasen. Oder wie diplomatisch Qi Dongdong von der Ozean-Universität in Qingdao auswich, wie auch zwei andere Germanistinnen. Die Neigung, sich in literarischen Traditionen zu verstecken, ist groß, nicht nur bei Chinesen, sondern auch bei uns selbst, so mein Eindruck. 
Allerdings fand ich immer Offenheit bei den jungen Chinesinnen - wenn wir über Kasernierung im Campus und Kontrolle im Studium sprachen; allerdings konnten sie alle diese Phänomene nicht politisch einordnen, sie sahen es wie Schüler, die die Zwänge der Schule beklagten, aber nicht in übergeordneten (gesellschaftlichen) Zusammenhängen zu interpretieren wussten. 
Im Gespräch mit Wulf Noll wurde mir deutlich, dass die chinesische Führung das Programm deutscher Dozenten in Qingdao stark einschränkt. 
Wie gesagt, ich könnte einiges Politische über China sagen - vielleicht auch in einem literarischen Zusammenhang. Und (m)eine Kritik an China schlösse (m)eine europäische Selbstkritik nicht aus.
Ich frage mich: ist das System so stark, dass ihm schon jede Kritik egal sein kann? Sind die großen Massen der chinesischen Bevölkerung und große Teile der Intelligenz schon ganz auf der Seite der erfolgreich agierenden Partei? Und: sind wir, wir in Bonn, so tief in der Falle philologischer Selbstbespiegelung, dass wir nicht mehr hausklettern können aus unserem Trichter?

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