Narrative

Entarsche deinen Kopf!


Eine Kolumne von  Jack

Sonntag, 23. Februar 2025, 23:07
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Rechte Narrative III: Selbstverantwortung

Jeder ist seines Schicksals Schmied. Jeder ist durch seine Entscheidungen für die Ergebnisse in seinem Leben verantwortlich. Es ist allein deine Schuld, wenn du als Loser oder Penner endest. Wer die Gesellschaft, die Politik oder das Schicksal für sein Scheitern im Leben verantwortlich macht, sucht nur nach Ausreden!


Hier handelt es sich um eine Aussage, die, für sich genommen, wahr ist, aber als politisches Narrativ falsch. Aus religiöser und spiritueller Perspektive bist du nicht nur für die Konsequenzen deiner Handlungen verantwortlich, sondern auch für die Lebensumstände, in die du hineingeboren wurdest: theistisch betrachtet, hat dir Gott genau das Leben gegeben, das er in seiner unendlichen Weisheit für dich ausgesucht hat; dharmisch gesehen, wurden die Umstände deiner Geburt, einschließlich Erbkrankheiten und Behinderungen, von deinem Karma bestimmt.

Wendet man diese Aussage auf die sozioökonomischen Verhältnisse an, dann sagt man im Grunde, dass jeder, der halbwegs lesen und schreiben kann, Jura, BWL und Informatik studieren soll, und sich nicht später über Altersarmut beschweren, wenn er eine Geisteswissenschaft studiert oder eine brotlose Kunst erlernt hat. Noch konsequenter gedacht, bedeutet das wirtschaftlich rechte (neoliberale) Narrativ der Eigenverantwortung, dass die Gesellschaft eine Kampfarena konkurrierender Individualisten ist, und weiter nichts. Familie, Bildung, Religion, Kunst: all das ist nur dann relevant, wenn es dem egoistischen Homo oeconomicus nützt, ansonsten ist eine Entscheidung für die Familie zulasten der Karriere eine falsche Entscheidung und die Altersarmut infolge einer Scheidung die gerechte Konsequenz.

Eine neoliberale Robinsonade funktioniert nur, wenn das Leben als ein ökonomisches Ego-Shooter-Spiel verstanden wird, und die Mitspieler als NPCs (non-player characters). Allein schon die Existenz anderer als Personen, nicht bloße Objekte, sprengt den Solipsismus und somit den Primat des individuellen ökonomischen Erfolgs. Es gibt menschliche Beziehungen, es gibt Liebe, Leidenschaft, Talent, Berufung, Idealismus: vieles davon kann im echten Leben (Vorsicht: das "echte Leben" ist ein oft verwendetes rechtes Narrativ, und zwar im Kontext des Antiintellektualismus) Vorrang vor dem ökonomischen Erfolg haben, und zwar nicht, weil jemand ein Dummkopf, ein Wahnsinniger oder ein Loser ist, sondern weil er ein Mensch ist.


Ökonomische Formationen wie der Kapitalismus sind real und haben mehr Macht über die menschlichen Lebensverhältnisse als individuelle Entscheidungen. Eine Gesellschaft mit dem Primat der Wirtschaft zerstört oft die Möglichkeit, ein sinnvolles Leben zu führen. Das Narrativ der Selbstverantwortung ist selbst eine Ausrede, und zwar um über Privilegien, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten hinwegzusehen.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Hoehlenkind (24.02.25, 19:15)
Richtig. Niemand hat eine Welt für sich. Am Glück oder Unglück von Einzelnen schmieden immer andere mit.

Und doch gibt es auch sinnvolle Anwendungen von "Selbstverantwortung". Nämlich für die seltenen Situationen, wo niemand anderes beteiligt ist. 

Wirkliche Selbstverantwortung lernt man nur in Freiheit. Denn nur wenn ich einsehe, dass meine Lage die Folge einer freien Entscheidung von mir ist, kann ich in Zukunft solche Entscheidungen vermeiden. Ohne Freiheit lernt man nur die Schuldverschiebung auf andere.

Zunehmende Verantwortungslosigkeit ist auch die Folge von abnehmender Freiheit in der Kindererziehung.
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