KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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au’äumst’s au’äumte – Bergmann. II. Lyrik (9)
Bergmann, *6.4.1945 in Halle an der Saale, Deutsches Reich, später Sowjetische Besatzungszone (Sachsen-Anhalt), dann Deutsche Demokratische Republik (Bezirk Halle), 1955 Übersiedelung in den Westen: Flüchtlingslager Loccum in Niedersachsen, Bonn am Rhein (Bundeshauptstadt bis 2000, seither „Bundesstadt“), 1956 Bad Godesberg, 1958 Bonn, 1959 Neuenbürg an der Enz, 1962: Birkenfeld in Württemberg, 1964-1966: Bundeswehr (Luftwaffe) in Roth bei Nürnberg, Leipheim bei Ulm und Erding bei München; 1966 Bonn - Bad Godesberg, 1974 Wachtberg-Villip (Kreis Siegburg), 1978: Bonn – Friesdorf, 1980: Bonn – Plittersdorf, 1992 Remagen-Oberwinter, seit 2004 Bonn – Bad Godesberg. – Abitur 1969, Studium an der Uni Bonn: Germanistik und Geschichte; Verwaltungsangestellter im Bundesministerium für Verteidigung, in der Deutschen Forschungsgemeinschaft und im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; 1989-1991 Studium der evangelischen Theologie; Lehrer am St.-Michael-Gymnasium Bad Münstereifel. – Schreibt seit 1988 Lyrik, seit 1996 erzählende Prosa. Auch als Kritiker hat er sich einen Namen gemacht. Bergmann über die Internet-Dichter: „Je mehr sie schreiben, umso weniger sagen sie.“
Die Daten zum äußeren Leben Bergmanns deuten auf eine komplexe Persönlichkeit hin, die sich besonders deutlich in den Gedichten zeigt. Bergmann hält sich für einen miserablen Lyriker. Aber es ist an der Zeit, das Gegenteil zu beweisen.
au’
m’agst’n au’m’eer?
doch’n äumen mal’n
fahl’n äume r’al’n
au’schwer’m aum’n’eer
äumst’n’s au’äumte
leben’s’schlaf
i’m aum di’ni traf
au’äumst’s au’äumte
Das Gedicht „au’“ zeigt Bergmann in der vordersten Reihe der avantgardistischen Dichter; es beweist übrigens eine gewisse Nähe zu Jovan Jovanovic, allerdings ist Bergmanns Lyrik weit weniger spielerisch und viel rationaler – wenn auch durchaus konkurrenzfähig in der neologistischen Gestaltung. Das zweistrophige, metrisch streng geformte Gedicht hat umarmende Reime. Die Verdichtung der Gedanken und Gefühle ist nicht zu steigern, es sei denn durch Wortlosigkeit. Bergmann sagt mir immer wieder unter zwei Augen: „Die besten Gedichte sind die ungeschriebenen.“ Vielleicht lässt sich dieser selbstkritische Kommentar auch als Seitenhieb auf viele Internet-Lyriker konnotieren.
„au’“ bedeutet „Tr-au-m“ und zugleich Schmerz („au-a“ oder „au’“) – aber es ist kein Albtraum gemeint, sondern der Erkenntnisschmerz, der sich im Traum und in der lyrischen Traumdeutung vollzieht. – Die Frage „m’agst’n au’m’eer?“ ist nur schwer zu interpretieren: Naheliegend ist die Lesart: „Magst du auch Meer“ (oder „mehr“?), aber die semantische Apostrophe (…’…) zwingt den Leser zur Dechiffrierung der Polyvalenz, die der fast hermetischen Sprache innewohnt: „m’“ kann zum Titel gehören – Bergmann strebt die innige Verbindung von Titel und Gedicht an, er will die Einheit von Thema und Thematisierung, die Auflösung des lyrischen Ichs im Über-Ich des Autors, im Über-Wir des Universums; „m’“ verwandelt sich hier in das Wohlgefühl gelingender Traumarbeit, „’agst“ kann „sagst“, „’n“ kann „in“ oder „und“ oder „denn“ bedeuten, und „au’“ weist vielleicht auf den Erkenntnisschmerz hin („au!“), der für das Verständnis der Lyrik Bergmanns so wesentlich ist: Dieser Lyriker macht es dem Leser nicht leicht. Ich versuche nun die zweite Deutung des ersten Verses: Mmmh!, m-agst den-n au-ch (du) m-ich (nun) (m)ehr? Oder die dritte Deutung (schon im Hinblick auf den gesamten Kontext): Mmmh, s-agst (du) au(ch) (a)m (m)eer? Anders formuliert: Empfindest du auch die süße Melancholie, wenn du allein am Meer stehst? - Ich will den Leser nicht zu sehr mit der philologischen Diagnose dieser lingua nova quälen und schlage hier eine Übertragung des epochalen Gedichts ins derzeit noch gültige Neuhochdeutsch vor:
Traum
du sagst dein traum war leer?
und doch – den träumen malen
die fahlen räume des realen
aus schwerem schaum ein meer
du träumst nur das versäumte
des lebens in den schlaf
in jedem traum der dich nicht traf
versäumst du das geträumte
Natürlich kann diese Deutung nur als eine unter vielen (streng genommen: unendlich vielen) Interpretationen gelten, die nur in der Summe eine Annäherung an das ergibt, was das Gedicht in seiner ungedeuteten Form enthält. Damit wird nichts Geringeres behauptet als die Undeutbarkeit der Unendlichkeit. Bergmann bürdet dem Leser eine Sisyphos-Arbeit beim verstehenden (richtiger: nachschaffenden) Lesen auf, deren Antizipation dem Dichter in den neun (nicht acht!) Versen gelang. Anders gesagt: Dieses Gedicht enthält alle denkbaren (möglichen) Gedichte, die noch geschrieben werden könn(t)en. Und das ist viel! - Bergmann über sich: „Je weniger ich schreibe, umso mehr sage ich.“ (2007)
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
In sofern sehe ich die erwähnte Kritik an den Internet-Dichtern sehr gelassen. Ich behaupte von mir als Internet-Dichter einfach das Gegenteil, wobei es jedem Dichter gut zu Gesicht steht, wenn er von sich behauptet ein miserabler Lyriker zu sein, denn das nimmt den "Druck aus der eigenen Dichtung!"
Das komprimierte "au" - Gedicht ließ mich in der Tat an ein Verfahren denken, wie heutzutage Audiodateien für bestimmte Formate "gepackt" werden ohne an Qualität zu verlieren. Das Bergmann sich für einen miserablen Lyriker hält liegt meines Erachtens, außer im Kalkül, am enormen Rüstzeug, dass er dazu besitzt aber auch an seinem Mut einen Text zu veröffentlichen, zu dem er sämtliche Reaktionen zu antizipieren in der Lage ist! Das Gedicht finde ich, nicht nur durch die Anmerkung des Ko-Kolumnisten, hervorragend.
Was die spielerische Konvergenz in der Lyrik zu Jovan angeht kann man trefflich streiten. "Die lyrische Unschärferelation" beschäftigt beide! Darin stecken die "schönsten Ungeschriebenen" - doch Jovan würde vielleicht auch sagen:"Die wunderbarsten Gedichte stecken in den beschissenen geschriebenen, denn wir fallen oft auf den Hosenboden, den wir noch voll haben!"
Aufstehen und weiter schreiben ... Zitat."Ich will den Leser nicht zu sehr mit der philologischen Diagnose dieser lingua nova quälen und schlage hier eine Übertragung des epochalen Gedichts ins derzeit noch gültige Neuhochdeutsch vor" ... aus diesem Grund habe ich die Jugendlichen und ihre SMS nie verteufelt. Auch wenn sie über "Nebensächlichkeiten" simsen ... sie entwickeln die Sprache en passant und manche sehen daneben alt aus;)
:-)
(16.03.07)
ihr habt mich gut gelesen und verstanden, jeder auf seine Art - aber den ersten Preis gebe ich Vaga, weil sie so schön formuliert, dass ich's selbst geschrieben haben könnte! Interessantes entnahm ich auch Gerds Bemerkungen! Und Jovan, der Meister der Ellipsen, besticht mich sehr! Lieber Eberhard, mit der Rückübersetzung meines Gedichts (oder umgekehrt) wollte ich zeigen, dass ich auch mit Steinchen werfen kann... Lieb leilah, ein gerader Lebenslauf war mir weder möglich noch hätte so etwas zu mir gepasst. Liebe Inge, es ist schon schlimm, das Ich so umstellt bin von falschen Ortografen! - Euch allen lieben Dank! Uli