KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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argotmente - Aus den Kommentaren II
Diskussion über das Sonett
Dezember 2005
Eira:
Gedanken, Gefühle sind formlos. Doch gibt der Autor ihnen nicht schon eine Form, indem er sie zu Papier bringt? Egal, ob der Text, das Gedicht auf den ersten Blick eine Form hat oder nicht? Und sind Gefühle wie Liebe, Geborgenheit, Wut, Hass, Trauer, Verzweiflung... heute wirklich komplizierter als früher? Wenn ein Autor eine Form als passend für die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs ansieht, warum sollte er sie dann nicht verwenden?
Bergmann:
Ich denke, die Gefühle selbst sind wohl seit eh und je gleich. Aber die Bedingungen, in denen heute Gefühle erzeugt werden, sind wesentlich komplexer als noch vor ein paar Jahrzehnten: Die Weltbilder sind weitgehend zusammengebrochen, der wandlungsfähige, verführerische Kapitalismus (sein vornehmer Name: Marktwirtschaft) ist vielleicht das einzige Weltbild neben den Religionen, das bei denen, die glauben, ungebrochen ist. Jedem Autor seine Form! Ich meine nur, Sonette sind äußerst problematisch, sie holpern, stocken oder platzen.
Alex:
Die alten Weltbilder sind zusammengebrochen, d. h. nicht, dass es keine mehr gibt, die uns beeinflussen. Auch kann ich nicht zustimmen, dass Gefühle heute komplexer erzeugt werden, sie sind immer noch Orientierungspunkte, die wir brauchen und immer noch genauso einfach zu beeinflussen, zu erzeugen sind. Du müsstest da schon ein Beispiel geben. Form oder keine, das Sonett hat so lange durchgehalten, ich sehe keinen Grund, warum es veraltet sein sollte.
Bergmann:
Je komplexer die Lebensumstände, desto komplexer die Gefühle. Die sehr einfache Sonettform wird dieser Komplexität nicht gerecht. Trotzdem gelingen in Ausnahmefällen immer wieder Sonette, die (in geeigneten Bildern) trotzdem die Komplexität unserer Zeit andeuten.
TiLeo:
Zuerst einmal geb ich dir Recht. Bin ebenfalls der Meinung, dass die Kunst beim Dichten nicht länger nur darin liegt, feste Formen gekonnt zu verwenden. Das war einmal und das war nicht schlecht. Die Kunst beim Dichten scheint mir, die individuelle Form eigenen Gedanken zu finden, die dem Text innewohnende Struktur. Das kann, nur um das mal zu sagen, auch heut noch in Form von Sonetten und ähnlich starren Gattungen geschehen. … Bei moderner Lyrik, die oft hermetisch und vielfach verschlüsselt ist, greifen keine klassischen Interpretationen. Es besteht tatsächlich ständig die Gefahr, der Leser könnte vom Dichter an der Nase herum geführt werden. Wie schließt man so etwas in Zukunft aus? Welche Maßstäbe legt man an, wenn die alten versagen? Die Antwort auf diese Frage ist, meiner Meinung nach, entscheidend, für die Art unseres Umgangs mit moderner Lyrik und Lyrik im Allgemeinen.
Bergmann: Ja. - Dass der Leser vom Dichter an der Nase herumgeführt wird, finde ich nicht schlimm, weil der Leser das Gedicht beim Lesen selbst (neu) erschafft.
Der Steinchenwerfer:
Du wirst robert gernhardts abrechnung mit dem sonett (in sonett-form; welch augenzwinkernde spitzbübigkeit) kennen. ich erlaube mir dennoch, sie hier für die kommentar-verfolger anzuhängen:
Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut
hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut
darüber, daß so’n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.
Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
ich meine, dass die form der auflösen kann, welcher sie beherrscht. die moderne lyrik krankt gelegentlich daran, dass aus der not eine tugend gemacht wird und das metrische und sprachliche unvermögen zur stilistischen absicht erklärt wird. gernhardt wird sonette mögen. die form engt nicht nur ein, beschränkt nicht nur die möglichkeiten, sie lässt auch (durch das restriktive) möglichkeiten des sagens erst sichtbar werden. die form kann also schreibhilfe sein. darüber hinaus vermag struktur die kontrolle durch den verstand zu umgehen. nicht-semantische elemente schaffen mechanische verankerungen im gedächtnis. deswegen wirken traditionelle formen weiter – nahezu zauberformelhaft. diese wirkungen kann man schreibend nutzen … oder auf andere wirkungen setzen. immer aber wird man rhetorische figuren verwenden. die verzweifelte suche nach neuem lässt lyrik dann aber oft episch werden bzw. ins dadaistische protestieren abgleiten. das könnte ein beleg dafür sein, dass die formenlehre der lyrik eine recht abgeschlossene und damit ausgereizte theorie darstellt. hier bin ich mir nicht sicher. einerseits sehe ich weiterentwicklungsversuche oft als rückschritt (überzüchtung bringt krankheiten hervor) und wenig überzeugend, andrerseits wäre es überaus faszinierend, wenn am lyrik-himmel doch noch einmal rhetorische figuren auftauchen, die es noch nicht gab. ich bleibe gespannt und nutze derweil das zur verfügung stehende handwerkszeug.
Bergmann:
Gernhardts MATERIALIEN ZU EINER KRITIK DER BEKANNTESTEN GEDICHTFORM ITALIENISCHEN URSPRUNGS… Lieber Werfer, ich bleibe auch neugierig auf Neues in alten und neuen Formen. Nichts gegen trotzdem gelungene Sonette.
argot:
Ich glaube ja, dass auch „Verfall“ von Trakl sich auf seine Form bezieht,
dass sie das Gitter ist, um das das Lebende sich schwankend, zitternd, rankt.
Da ist ein Widerspruch. Da’s von Verfallen spricht und sich doch dem verdankt,
was wir Struktur und festes Versmaß nennen. Man sieht im Lied den Unterschied
aus Form und Inhalt auftun sich wie eine Kluft, wie auch in „Kokain“.
Benns Ich-Zerfall? Die Form fällt nicht – fällt nicht. Ein braver Reim, ein braves Maß, da hebt sich zähneklappernd Ironie hinauf, Vergeblichkeit. Das saß.
Und wirkt auch jetzt noch tief, viel tiefer doch als Räusche, die Durchformung fliehn.
Ich glaube sehr, was auch der Werfer glaubt: am Zwang der Form gebären sich
Gedanken, Wörter, Wendung, neuer Ton und festrer, stimmigerer Klang.
Er schlägt den Schatz von ferneren Vokabeln auf. Er zwingt zur Suche mich.
Die freie Form ist auch nicht frei. Oft bleibt es eng, inzüchtelnd klamm und bang:
nur fällt’s kaum auf. Der Inzest des schnell Hingepfuschten bleibt verkürzt und roh,
ein jeder kann so schreiben, dass es wirre wirkt. Herzlichst grüßt: argot
Bergmann:
Parbleu! Was für ein gelungenes und tiefes, in Langverse ausuferndes, überschwemmendes, seine Form leicht sprengendes Sonett! Chapeau!
Hier mein (klassisches) Gegen-Sonett:
tönchen
nur für dich
du schepperst immer weiter bis zuletzt
hast dir dein überleben frech erlaubt
ich habe aber nie an dich geglaubt
du klingst schon jetzt so blutleer so vergrätzt
wie ein museum bist du tot vernetzt
du weißt was jeder weiß - und überhaupt
du taugst nicht für das neue so verstaubt
du wirst von allen schmieden überschätzt
von deinen klempnern in den tod gehetzt
so fest geschraubt und künstlich aufgesetzt
hast du den inhalt an die form verpetzt
in eng gesetzten versen lebt kein jetzt
wie im japanischen theater – no!
nun ruhe sanft du künstlicher argot!
argot:
Glückwunsch! Ein gelungen zusammengekabeltes Sonett, das Du da abgeliefert hast! Die Enge der Form hast Du gut dargestellt durch die streng eingehaltene Schematik des abba abba, in Verbindung mit dem klanglich wenig attraktiven „-etzt“-Reim, der sich uns ganze 4x in die Ohren einschabt.
Die Terzette erscheinen mir sprachlich abwechslungsreicher und besser gesetzt, namentlich das „geschraubt“, das sich mit dem Klempnertum verschaltet (irgendwie schreit Klempner doch geradezu nach einer Binnenassonanz mit verplempern oder so...) und den b-Reim der Quartette wiederaufnimmt, hat es mir schwerlichst angetan.
An dieser sprachlich so schönen Klempner-Stelle wirst Du aber argumentativ brüchig - vielleicht Selbstabbildung: der Inhalt vertiriliert sich zu Gunsten der Form -, indem Du sagst, das Sonett würde von seinen Machern umgebracht und erwürgt... während doch Dein Argument eher das wäre, dass das Sonett an sich schon ein Leichenteil und längstens tot ist und eher von den Machern künstlich ins Leben gefrankensteint wird: wer nicht zum Zauberer taugt, wird eben unausweichlich zum Nekromanten.
Wirklich süß und beinahe mit dem neuen Vokalismus sich wie ein Hoffnungsstrahl eröffnend die beiden letzten Zeilen... dass Du das Nô-Theater hereinbringst und mit der englischen Verneinung in eins bringst - famos.
Nô ist allerdings eine alte Form, deren anhängliches Festhalten von seiten der Japaner uns Westlern wohl seltsam anmuten muss. Die meisten Muttersprachler verstehen schon die alte Sprache nicht und können der Handlung kaum folgen, es ist normal, dass während einer Vorstellung ein wenig geschlafen wird.
Wer versuchen will, Nô zu verstehen, sollte sich vorstellen, dass da schon Tote sprechen und immer wieder, verfangen in ihrem alten Sein, über ihr ehemaliges Leben reflektieren. Und labernde Leichen - das passt ja sehr gut zu Deiner These.
Ich hüte mich: Chapeau!
Auf einer Sänfte ruhend,
argot
Bergmann:
mit der brüchigen stelle hast du recht - und daran kannst du erkennen, dass ich das sonett ja ganz gern habe, die form überlebt auch bei mir, ich lese gern sonette (wenn sie einigermaßen fließen und klingen).
ich habe 2003 in bonn einen der besten meister des nô-theaters erlebt - in der bundeskunsthalle. das theater hatte auf jeden fall den reiz, den auch beste sonette haben. natürlich ist unsere westliche lebensweise oft nicht geeignet, ruhigere, meditativere kunst zu betrachten, uns fehlt die zeit. so gesehen, lieber argot, komme ich, der das sonett neckt, weil er es im grunde seines kunstherzens (!) liebt, zuletzt zu einer doch viel positiveren beurteilung. - : auf den ersten blick flach. dann tun sich tiefen auf. kaum hat man sich an diese tiefen gewöhnt, tun sich wieder ozeanisch weite untiefen auf, und da säuft so manches paddelboot ab bis auf den grund.
argot:
Läutchen
Dein gedenkend
Ich finde nicht, dass wir „komplexer“ sind.
Ein jeder vom Geleut ja noch als Kind
und gleich naiv und gleich erstaunt beginnt.
Ein jeder bald sein kleines Weltbild spinnt,
auch zusieht, dass es hält und nicht verrinnt:
er hält es rein, da er auf Stetes sinnt,
das nicht verwirrt und macht ihm argen Wind,
er liebt es häuslich, heimlig, lauschig, lind.
Ganz gleich ob hohe Schicht, ob im Gesind:
das Hirn ist immer leicht und schwer und minnt.
Ein Wort nur noch zu jener steilen Meinung,
die Kunst müsst gleichsam wie ein Spiegel sein
zur kakophonen Außenwelt, dem Schrein
und Brülln der großhoch ragenden Verneinung,
die modernd die Moderne ist. Das Wirren,
der lodernde Triumph des Kapitals,
des wissenschaftlichen Kalküls. - Ich mal’s
mir anders aus und glaub, dass sie sich irren.
Die Kunst sei wie ein Gegenbild, dem schlechten
Geschwätz der Außenwelt nun den Versuch
des guten Sprechens an den Rand zu flechten.
Dies ist, was Bachmann - und nicht Bergmann - meinte.
Ein sanftes Widerwort. Ein kleines Buch.
Vergebliches, das um sein Scheitern weinte.
Und im Beweinen vielleicht sanft gewinnt.
Bergmann:
Wir werden uns nicht einig und werden wahrscheinlich immer und ewig dieselben Argumente an den Kopf werfen:
„Aus Spaß wird sonettiert von Zeit zu Zeit.
Mit Dichtung hat das manchmal Ähnlichkeit.“
(Lothar Klünner, 18. April 1995, in: Lothar Klünner/Klaus M. Rarisch & al., Hieb- & stichfest. Streitsonette. Meiendorfer Druck No. 40, Robert Wohlleben Verlag, Hamburg 1996.)
Ein Schriftsteller, der auch gern Sonette schreibt, ist HEL = Herbert Laschet, Berlin. Wenn unser Sonett-Dialog noch eine Weile andauert, werde ich ihn noch ins Spiel bringen - und mich gezwungen sehen, aus Spaß am Handwerk noch ein paar Sonette zu schreiben, obwohl ich überhaupt kein Lyriker bin.
Auch in dem Punkt, dass „wir nicht komplexer“ sind, werden wir uns nicht einigen. Trotz aller Konstanten in der Geschichte und im Hinblick auf die menschliche Psyche musst du doch sehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse - und damit die privaten - sich verändert haben, vielgestaltiger geworden sind.
An der Form des Sonetts haben auch Expressionisten nach dem 1. Weltkrieg noch festgehalten und sie belebt. Das sehe ich. Aber solche Sonette sind eben vor allem der Versuch, enttäuschte Sehnsucht wenigstens in der Form auszugleichen.
Gib zu, dass viele Autoren vor allem aus handwerklicher Sprach-Lust Sonette schreiben, nicht aber weil es ihnen um das Wesentliche im Gehalt oder in der formalen Weiterentwicklung der Lyrik geht. Und die (berechtigte) Kritik an formlos-beliebigen schwachen Gedichten ist eine Ausrede zugunsten einer Mastkur des Sonett-Plädoyers... stimmts?
Mit Bachmann in einem Vers genannt zu werden, scheint mich zu ehren, ist aber natürlich nur ein (alliteratives) Wortspiel, reine Rhetorik, eine der typischen Fallen des Sonetts, das eben klingen will und oft nur Klang sein kann. Auch das ist schon viel.
Ich drohe hiermit ein neues Kampfsonett gegen das Sonett an, ein Suizidalsonett... aus reiner Lust am Spiel.
argot:
Mach! Mach! (Ich antworte dann auch ausführlicher in Prosa...)
Bergmann:
suizidalsonett
für argot
ich bin so nett und habe sieben leben
die reime sind mein täglich brot
ein’ feste form mein strenger code
so will ich mich mit euch verweben
so kann ich immer höher streben
mein metrum wird nie rot
ich habe keine not
an alten schemata zu kleben
nun soll ich mich ergeben!
man wirft mit kot!
die wörter beben!
ach sapperlot!
bin eben
…
darkjoghurt:
Gegen das Sonett zu protestieren scheint mir ebenso unsinnig, wie in den Himmel zu schreien: Es möge aufhören zu regnen. Was mir mehr auffiel, war dieser eine Seitengedanke in dem Text (oder gehört es etwa zu dem Hauptgedanken und ist die Basis für die weitere Kritik? - ist es am Ende der Hauptgedanke?) - Du schreibst:
„Das passt nicht mehr zu den komplizierteren Gedanken, Gefühlen, Sichten und Gesichten von heute [...]“
Sind sie denn wirklich komplizierter, die Gedanken, Gefühle, Sichten, Gesichte? Einige Aspekte sind unserer Post-Alles-Verknurpselung zu verdanken möglicherweise, aber - alle? Ist der Problemsud nicht im Großen und Ganzen eher unverändert geblieben?
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