KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Bergmann und der Zauberberg an der Lahn
206. Kolumne
Wolfgang Schneider-Kroll
Bergmann und der Zauberberg an der Lahn
Rede zur Verabschiedung von Ulrich Bergmann am 14.7.2010
Lieber Ulrich,
zum Facettenreichtum deiner pädagogischen Existenz, zu deinen Kernkompetenzen gehört unzweifelhaft die anekdotische Annäherung, Erläuterung oder nur Illustration eines historischen Gegenstands und konsequenterweise die Anekdote als Textsorte, als blanke Gattung auch ohne literaturdidaktische Funktion.
Ich versuche mich auch mal in dieser Kunst.
Eben singt das Kollegium in der Apsis des Limburger Doms „Großer Gott, wir loben dich“, aufgefordert von einer kecken Ordensschwester. Alle Glaubensskeptiker un-seres Kollegiums, Trump, Plum, Erlinghagen, Dellen, Weidemeier, singen kräftig mit, wegen der Akustik des Doms – so keck war die Ordensschwester, die uns zuvor Architektur und Geschichte des Bauwerks anschaulich erklärte.
Eben gab’s Mittagessen – und das war mir dann gar nicht klar – es wurden Kleingruppenbildungen noch einmal memoriert, die offenbar vorher abgesprochen waren – warum, wurde wenig später klar. Es ging nämlich darum, welche Kanu-Besatzungen vom oberen Lauf der Lahn ein paar Meilen flussabwärts... Die jungen Sportlehrer fanden das für unseren Lehrerausflug einen durchaus angemessenen Programmbeitrag.
Nun gut, ich war bei den letzten, und Borsch und Bergmann auch.
Der Flussbruder, der die Boote den Kollegen anwies, ließ uns als letzte Platz nehmen, mich als den schwersten und größten vorne, Bergmann mittig – und so waren auch unsere ersten Versuche – wir kreuzten...
Wir kreuzten stets gegen das Ufer bzw. gegen die gemauerten Anlagen einer Unterführung, an deren Ende in einer Schleuse das Hauptfeld der Boote auf uns wartete. Wir waren die letzten, und mit einem finalen Stoß in Richtung auf das Bruchsteinwerk riefen wir, gegen die sich schließende Schleuse riefen wir... und die noch junge, noch kinderlose Kollegin Schulte zu Sodingen wandte sich um und meldete unsere Nachkommenschaft, so dass wir befeuert durch so viel kollegiale Observanz die Durchfahrt durch die noch schmale Öffnung des Schleusentores schafften – und dann doch an der bruchsteingemauerten Wand anstießen, so dass wir - kenterten. Die Lahn war warm, kopfüber in deren Wasser waren wir nicht geschockt, von Heldentum keine Spur, Borsch, Bergmann und ich waren in unserer Bekleidung völlig durchnässt, Habseligkeiten waren endgültig verloren, von den beiden Schuhen Bergmanns einer, von mir eine Sonnenbrille, Borsch war nur durchnässt. Aus der Zuschauerschaft der Fahrradgruppe hoch oben auf der leitplankengesäumten Bundesstra8e schimpfte der gerade pensionierte Ur-Sportlehrer Ungerathen wie ein Rohrspatz, dass man doch nicht Philologen ohne Vorbereitung auf eine solch gefährliche Unternehmung...
Gleichviel, Entsetzen, Mitleid, Schadenfreude, Vorwurf schlug uns von oben entgegen. Wir allerdings fanden uns als Helden des kleinen Zufalls, die Lahn war warm. Ungerathen organisierte sogleich die Fortsetzung der Bootstour. Findige Kletterer fanden sich bald, die beherzt das havarierte Boot zwischen sich auf für solche Fälle offenbar vorgesehene in die Bruchsteinwand eingelassene Leitern nahmen, um das eingedrungene Wasser auszukippen. Das kurz abgemacht, ließen sie wieder das Boot zu Wasser, in das wir Schiffbrüchigen wieder einstiegen – nur für eine kurze Reintegration.
Denn, obzwar die Gruppe nunmehr Blickkontakt zu uns hielt und aufmunternde Zurufe an uns sandte, kreuzten wir weiter, nun in das Ufergebüsch, herabhängende Äste von Erlen und Weiden, die uns bald wie Elite-Soldaten, Nahkampf-Monster, GSG9-Gestalten aussehen ließen – geschwärzt, kampfbereit, trotzig. Doch das waren wir ja nicht eigentlich – wir kamen ja nicht voran - und wurden zum Problemboot der Gruppe, zum Ärgernis, wir minderten die Gruppenleistung erheblich, spürten den Druck, verkrampften, ich merkte es im Beckenboden und – kenterten erneut. Kopfschütteln, Ärger, Zorn.
Es gab nur eins: Aufgabe, Einsicht in den Irrtum.
Wir verließen schwimmend die Mitte des Flusses, Bergmann und ich. Borsch fand Platz in einem anderen Boot – und Bergmann und ich fanden uns am falschen Ufer – kein Pfad, unwegsames Gelände – und hier im zivilisationsfreien Raum bemerkt Ulrich Bergmann, dass er nur noch einen Schuh trägt, der andere liegt ja im Schleusengrund – und er wirft ihn in einer großen Geste wie der König von Thule seinen Becher ins Meer seine Schuhe in die Lahn.
Diese Geste baut ihn – und mich gleich mit – vor dem in Reih und Glied im nahezu stehenden Gewässer in schmalen Booten verdattert sitzenden Kollegen zum Helden auf. Wir genießen zunächst den gro8en Moment auf unserem Heldenplatz, ermannen uns schließlich, steigen erneut ins Wasser und gewinnen das andere Ufer. Die Lahn war warm. Dort ist Zivilisation, geteerter Gehweg – Skater, Radler, Jogger überholen uns, kommen uns entgegen, wir durchnässt, barfuß, in Unterhosen, reden über den „Zauberberg“, z. B. darüber, ob denn die Rotweinflecken auf den Laken Peeperkoorns nicht eben nur Rotweinflecken - dazu werden sie zu oft motivisch wiederholt - Blut, Monatsblut, Ausdruck einer dekadenten Liebesbeziehung...
Kurzum, wir trafen ein in dem verabredeten Biergarten mit Hallo, Applaus und mit Photoapparaten begrüßt. D. h. die Kollegen sahen in uns mittlerweile keinesfalls Gescheiterte. Und ich glaube, sie sind auch heute noch ein bisschen neidisch auf dich.
Im „Zauberberg“, und ich komme zum Schluss, wird u. a. erzählt, wie Hans Castorp das Sanatorium zu einer ihn irritierenden Bergwanderung verlässt und an der Vegetationsgrenze Zeuge einer archaischen Szene wird: Zwei Schweizer, nein, nicht Bergsteiger, Eingeborene, Autochthone, Ur-einwohner, kommen von einem Abstieg und stehen sich gegenüber, wollen, müssen sich trennen, verabschieden sich und sagen einander: „Leb wohl und hab Dank!“
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Bist Du jetzt tot, Ullrich Bergmann?
P.S: Zu-vie-le Bin-de-strich-e.