KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Unter dem Himmel von Berlin
272. Kolumne
AUSLÄNDER REIN - RHEINLÄNDER RAUS! steht an einer Hauswand in Berlin-Kreuzberg. Dieser Stadtbezirk, in dem manche Viertel eine türkische Mehrheit haben, ist das schillerndste Prisma der sozialen Probleme Berlins. Nah beieinander liegen Vitalität (Türken, Studenten, Künstler, Ur-Berliner -) und Dekadenz (Misere von Bausubstanz und sozialer Armut) in der einzigen wirklichen Großstadt Deutschlands. Der Spruch an der Hauswand ironisiert die Ausländerfeindlichkeit, zeigt aber auch ein eigenes Berliner Bewusstsein, das viele junge West-Berliner auf der eingemauerten Insel entwickeln. Die Tendenz sich von den Westdeutschen („Wessies“) abzugrenzen wird stärker.
Dieses neue Bewusstsein erlebte die Klasse während ihrer 7tägigen Berlin-Fahrt im April auch im äußersten Norden West-Berlins: In dem Dorf Lübars trafen die 19 Schüler der 10A auf die Jugendgruppe des evangelischen Pfarrers Axel Luther. In den Gesprächen der Jugendlichen ging es um die Identität der West-Berliner - und da man von der Wiese des Gemeindehauses auf die nur 500 Meter entfernten Minenfelder und Wachttürme an der sowjetischen Sektorengrenze sah, drehten sich die Gespräche auch um die deutsch-deutschen Fragen.
Am anschaulichsten erfuhren die Mechernicher Schüler die Teilung Deutschlands am Potsdamer Platz, wo DDR-Grenzer diesseits der Mauer, aber noch auf Ost-Berliner Territorium, Aufräumarbeiten überwachten, und vor allem am Eisernen Vorhang selbst: Warteschlange, Passkontrolle, Visumgebühr und Zwangsumtausch am Grenzübergang Friedrichstraße. Ein schwedischer Mitschüler, der die Ausländersperre passierte, wäre da fast verlorengegangen, da ihm das Geld für den Zwangsumtausch fehlte. Deswegen ging Frau Henk, die Begleiterin der Klasse, in den Westsektor zurück und reiste, indem sie den jungen Schweden eskortierte, ein zweites Mal nach Ost-Berlin ein - und dies gelang völlig unbürokratisch. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob die Toleranz der DDR-Grenzer oder die charmante Überzeugungskunst der jungen Lehrerin den Ausschlag für die Wiedervereinigung der Klasse gab. An der Schinkel-Wache, wo Herr Bergmann mit den Schülern den Stechschritt der DDR-Soldaten beobachtete, war die Klasse dann wieder vollständig.
Während in Ost-Berlin die Bockwurst als Imbiss dominiert, ist in West-Berlin Döner Kebab en vogue: Eine türkische Gyros-Variante im aufgeschlitzten Fladenbrötchen (sozusagen hot dog geschnetzelt). Die Schüler testeten natürlich auch Berliner Weiße grün oder rot, zum Beispiel in der „Dicken Wirtin“ am Savigny-Platz. Pur schmeckt die Berliner Weiße erst nach einem Jahr Lagerung in der frostfreien Erde einer Bauernscheune; in Alt-Lübars gibt es eine feine Kneipe, wo ein auf diese Art zu Berliner Sekt gereiftes Bier mehr geschätzt wird als veritabler Champagner.
Und die (andere) Kultur? - Die wurde, oft hektisch, mit U-Bahn, S-Bahn, Bus und Taxi erfahren oder auch zu Fuß erlaufen: In den „Kammerspielen“ war die deutsche Bühnenerstaufführung der ROCKY HORROR SHOW ein Triumph theatralischen Lustprinzips; im Betongiganten des Internationalen Congress Centrums gab es Bernsteins WEST SIDE STORY. In den Museen wurde das ästhetische Empfinden bis zum Zerreißen angespannt: Cleopatra und Nofretete waren mumifizierender Balsam für das traditionelle Schönheitsgefühl, dagegen lösten die Ausstellungen von Penck und Beuys mit ätzender Säure die Augenverkrustung - eine kulturelle Kneipp-Kur.
Am späten Abend beruhigten sich die erlebnissatten Gemüter der Berlin-Fahrer in der Disco („Twenty-five“ am Europa-Center) - um Mitternacht döste die zertanzte Seele im Bunkerbetonbau des ‘Jugendhotels’ Koloniestraße im Wedding friedlich ein; und über allen Träumereien von Döner Kebab, warmer Tagessonne und Nofretete wölbte sich, sternklar, der Himmel von Berlin.
1988
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
"Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob die Toleranz der DDR-Grenzer oder die charmante Überzeugungskunst der jungen Lehrerin den Ausschlag für die Wiedervereinigung der Klasse gab"
niedergeschrieben hast, uli. lo
Also unmittelbar nach der Klassenfahrt, also VOR dem Fall der Mauer.