KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 10. Oktober 2011, 09:12
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Die Wahrheit trägt immer neue Kleider

271. Kolumne

Axel Gehrings Zwölfer spielen Wedekinds „Frühlingserwachen“ erfrischend aufgefrischt und klug inszeniert im Theaterkeller


Selten sah ich eine derart stimmige Neuinszenierung! Das Stück, das in der Darstellung elterlicher und schulischer Autorität, auch in seiner alltäglichen Lebenswirklichkeit von der Zeit überholt schien, enthält soviel Wahrheit wie eh und je, wenn man nur richtig hinsieht, und zwar nicht nur auf den Text des Dramas, sondern auf unsere Wirklichkeit heute. Genau das hat Axel Gehring mit den Schülern und Schülerinnen seines Literaturkurses getan.

Klar, heute ist beinahe jeder Siebtklässler oder Achtklässler sexuell aufgeklärter als Wedekinds Jugendliche, die an der Prüderie der Erwachsenen und den damit zusammenhängenden Autoritätszwängen bei ihren ersten Liebesversuchen scheitern mussten. Andererseits klaffen auch heute Verstand und Gefühl auseinander wie damals. Was einer gelernt hat, hat er nicht unbedingt schon begriffen, und kann, was er weiß, nicht automatisch im Leben umsetzen. Liebe bleibt auch in Zeiten der Toleranz und Schamlosigkeit ein immer wieder neu zu bestehendes Problem, zumal die Antagonie von gesellschaftlichen Normen und sexueller Selbstbestimmung bestehen bleibt. Wann und wie ein Mädchen oder ein Junge seine Sexualität lebt, ist auch bei fehlender Repression kein leichter Akt.

Wenn die 14-jährige Wendla von ihrer Mutter Aufklärung verlangt, weil sie nicht mehr an den Storch glauben kann, erscheint das heute angesichts der Medien und des Internets unverständlich, ja grotesk. Zumal wenn die Mutter antwortet:

„Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheiratet ist ... lieben – lieben sag ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, Wendla, wie – wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s.“

Das Mädchen versteht die allzu verkniffenen und versteckten Anspielungen auf die körperliche Seite der Liebe nicht und glaubt an die zeugende Kraft der reinen seelischen Liebe.

Ich fand großartig, dass der Dramentext hier unverändert blieb! Der mündige Zuschauer, auch wenn er sehr jung ist, wird die Verlogenheit der erwachsenen Mutter erkennen, auch die Naivität der Tochter; er wird sich fragen, wie solche Naivität entstehen konnte und auch heute entstehen kann – denn die Irrtümer, die Gefühle, die Sehnsüchte tragen immer wieder neue Kleider, sind aber im Kern dieselben. Die Liebesszene, die zu Wendlas Schwängerung führt, zeigt in der vergewaltigenden Animalität, wie unerheblich die seelische Übereinstimmung für den Zeugungsakt sein kann, und das dekouvriert klar die Verlogenheit der Mutter und die Leichtgläubigkeit ihrer falsch behüteten, jetzt gefallenen Tochter. Daniela Pardemann spielte die dümmliche Mütterlichkeit drastisch und plausibel, Nadescha Ennigkeit die Tochter mit überraschend breitem Gefühlsspektrum.

Die neuen Kleider unserer Zeit zeigte die sehr einfallsreiche und lebendige Inszenierung in der Bearbeitung der teilweise veralteten Sprache. Das gelang oft recht gut, wurde jedoch hin und wieder ohne Not etwas übertrieben.

Den Einfall, Altersstufen und Ausprägungen von Sexualität durchzudeklinieren, fand ich sehr überzeugend. Die krass angedeutete Masturbation an der Bühnenrampe (völlig ungezwungen: Marcel Petracca) wirkte wie eine bizarre Koloraturarie, und die Zärtlichkeit zweier homosexueller Jungen wie ein sanftes Liebesduett – die tragischen Akzente, das verbotene Ausleben sexueller Not, wurden aufgewogen durch krasse Komik, die den Szenen eine starke kritische Tendenz gegen gesellschaftliche Zwänge verlieh. Derartig freimütige Szenen wurden im Theaterleben unserer Schule bisher noch nicht gewagt. Den Schauspielern gelang die Balance zwischen Tragik und Komik gut (Leo Theilken, Marcel Petracca). Ein Surplus an Ironie ergab sich, als ausgerechnet das Schwulenpaar seelische Liebestiefe erreichte – im Gegensatz zu der Vergewaltigungsszene mit Wendla und Max (authentisch gegeben von Jan Lorenzen).

Vielleicht der schönste Einfall war es, Wedekinds Lehrerkonferenz, welche heutigen Formen von autoritärer Unterdrückung und Abstrafung nicht entspricht (daher sehr komödiantisch in Szene gesetzt, doch war der Hausmeister überzogen), eine absurde Szene frei nach dem Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ folgen zu lassen – der Bezug ist durch die Stelle gegeben, wo Gabor mit seiner Frau darüber diskutiert, ihren Sohn Max in eine Korrektionsanstalt zu stecken, wo der „charakterlich angefaulte“ Sohn zu „eherner Disziplin ... und moralischem Zwang“ erzogen werden soll.

Die eingeschobene absurde Szene aus der Irren-Anstalt war Dreh- und Angelpunkt der Aktualisierung des Stücks. Die gruppentherapeutische Situation offenbarte Zwänge unserer Zeit und neue Autoritäten – trotz aller Toleranz und Tabubrüche gibt es auch heute eherne Grenzen der Moral. Fehlverhalten wird zunehmend dem medizinischen Personal zur Behandlung (Korrektur) anvertraut. Die groteske Parallele zur Lehrerkonferenz und zu elterlicher Erziehung hat Witz und zeigt, dass moralische Gebote und Verbote, auch wenn sie heute leiser, manchmal auch unsichtbarer auftreten, nach wie vor bestehen. Und hier schließt sich der Kreis: Der sexuellen Unaufgeklärtheit (Wendla) steht heute die politische Unreife vieler Menschen gegenüber.

Das Stück endet mit der großartigen surrealen Friedhofsszene am Grab Wendlas. Max trägt sich mit Selbstmordgedanken – er begegnet seinem Freund Moritz (in allen Szenen spielt Janik Minister wirklich grandios einen temperamentvollen Charakter, einen von Selbstzweifeln getriebenen und vom Leben enttäuschten Jugendlichen, der an dem persönlichen Unglück, in das er verstrickt war, zerbrach). Die visionäre Erscheinung Max’ zieht ihn zum Tode hin, sein Gewissen, das in Gestalt eines Vermummten Herrn auftritt (Anne Bornkessel), treibt ihn ins Leben zurück. Eine gespenstische Szene, die in aller Einfachheit den Ernst des Stückes noch einmal unterstreicht.

Vorhang. Tosender Applaus. Mit Recht. Ein Ensemble, das herausragende Soli ermöglichte und doch in erster Linie ein Zusammenspiel aller Einzelnen war und die richtige Balance aller Stimmungen zwischen Komik und Tragik fand. Ich habe in den letzten 20 Jahren kaum eine bessere Schüler-Aufführung gesehen. Chapeau!

10.10.2011



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