KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Trockenkurs. Dorst (Stücke 9)
356. Kolumne
„Die Freude am Leben“ von Tankred Dorst
Tankred Dorst schrieb schon 1962, er wolle „nicht fertige Stücke schreiben, sondern Spielanweisungen, die erst auf der Probe zu Leben erweckt werden, sich dort entwickeln, verdichten, einschränken, entfalten, bis hin zum Abend der Aufführung, an dem nun alle Spuren von Literatur, von dem Anspruch, mehr zu sein als Theater, getilgt sind.“ Ihm ist die „Genauigkeit der Geste ... wichtiger als das Wort, das nur den Anstoß gibt, um das Sichtbare hervorzubringen.“ Stimmt! Aber:
Das neue Stück ist kein fertiges Stück, es ist offenkundig eine schwache Spielanweisung geblieben. Dorst weiß nicht, was er will, er will es auch nicht, er setzt auf Intuition. Es gibt Stücke, da klappte diese Methode ganz gut, weil Dorst eine Vorlage hatte, eine Form, zu der seine Intuition passte, z. B. das Leben Knut Hamsuns („Eiszeit“) oder Schillers „Don Carlos“ („Karlos“).
„Die Freude am Leben“ ist eine Art assoziatives Stationendrama: Gezeigt wird, wie die Heldin des freudlosen Stücks immer wieder in der Liebe enttäuscht und widerlegt wird, und wie sie oder die Männer und Frauen an sich selbst scheitern. Eine ganz dünne Fabel ist das. Das soll auch so sein. Aber die Szenen auf der Bühne kippen alle um in lauter Clichés. Zu Leben erweckt ist da nichts. Vieles wirkt im Detail künstlich, und nicht etwa kunstvoll verfremdet. Die dialogischen und szenischen Rohlinge bleiben ein dramaturgisches Gewurschtel. Da kommmt kein Chaos-Charme auf, keine dramentheoretische Spannung. Spuren von Literatur, die zu tilgen sind, waren von Anfang an nicht da. Theater pur konnte daraus nicht werden. Denn die Geste, die wichtiger als das Wort ist, konnte bei so wenig sprachlicher Genauigkeit auch nicht genau werden! Ergo: Tankred Dorsts dramentheoretische Intuitionen sind wie die meisten seiner Stücke Stückwerk: Irgendwie und Irgendwas.
Auch das sprachliche Material ist langweilig und ungenau (unausgearbeitet!). Tankred Dorst, „...ein Mann des Theaters, der für seine szenischen Einfälle den literarischen Ausdruck sucht“ (Marcel Reich-Ranicki), fand einfach keine genauen Worte angesichts der oft nur ungefähren Einfälle.
Last, not least: Die falschen Erwartungen ans Leben (vor allem in den Variationen grotesker, abstruser und dummer Liebe und Unliebe), die Enttäuschungen und die Hohlheit der Menschen, die sich gegenseitig und miteinander belügen - gute Themen! Diese Anklage gegen falsches Leben ist ein Plädoyer für richtiges Leben. Aber das Zeigen scheitert am Potpourri längst bekannter Wahrheiten, die in Dorsts Wort-Teig zu Clichés gebacken werden.
Einiges gelang dem thematischen Wiederholungstäter aber auch routiniert gut: Die motivisch immer wiederkehrenden Bezüge zur „Schöpfung“ Haydns, die Naivität des Kindes Beatrix (ein ironisch sprechender Name), das schwarze Kabarett der letzten Szene: ultima cena.