KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 17. November 2012, 01:43
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Kopflose Zeit

327. Kolumne

Ein einziges Mal trafen sich die zwei besten Henker Chinas. Sie wollten wissen, wer die Kunst der Enthauptung besser beherrschte. Als Delinquenten, die bei dem Wettstreit der beiden Henker zu enthaupten waren, kamen nur Liebhaber der Wahrheit in Frage, die die vollkommene Enthauptung nicht als Handwerk, sondern als absolute Kunst begriffen: Die Henker selbst. Die beiden Rivalen mussten sich also gleichzeitig köpfen. Das Ziel der Meister war die reine Enthauptung, bei der das Schwert den Kopf vom Rumpf ganz trennt, der Kopf aber auf dem Hals stehen bleibt.
Die Henker schritten zum Richtplatz. Sie duldeten kein Publikum außer sich selbst. Sie standen einander gegenüber, schauten sich kühl lächelnd an, gaben sich die Hand, dann griffen sie zum Schwert, und auf ein gemeinsames leises Nicken mit dem Kopf schwang jeder sein schweres Schwert mit der lang gekrümmten scharfen Klinge und führte den Hieb durch den Hals des anderen. Die Schwerter fielen zu Boden. Die geköpften Henker standen fest auf beiden Beinen, die Köpfe blieben auf ihren Hälsen. Sie spürten keinen Schmerz. Sie starrten sich an. Sie hatten diesen Augenblick erwartet, aber sie hatten nicht gewusst, dass er so lange dauerte. Keiner wagte eine Bewegung.
Da merkten sie, dass ihre Herzen schlugen, und sie spürten, wie ihr Leben die Kunst widerlegte. Als der eine endlich nickte und sein Kopf nicht fiel, nickte auch der andere, und sie wussten nun, was sie immer schon wussten: An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind.

Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt, denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit den Gedanken unserer Zeit über sich selbst.



(Unter Verwendung eines Textes von Odo Marquard: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie. In: Philosophie - Gesellschaft - Planung. Kolloquium Hermann Krings zum 60. Geburtstag vom 27.-29. September 1973, pp. 114-127)

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AlmaMarieSchneider (16.11.12)
Ich glaube diese kopflosen Zeiten macht jeder Mensch irgendwann durch. Schade wenn es anders wäre. Man erfährt tatsächlich sehr viel über sich selbst.
Ich bin allerdings überfragt damit, ob man dazu nickt.

 Bergmann (16.11.12)
Bei mir biste keine Delinquentin, bei mir musste nich nicken!
Herzlichst: Uli

 Bergmann (17.11.12)
Bei Odo Marquard heißt es im Originaltext (1973): "... Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber. ..."

 loslosch (17.11.12)
die weise - der weise - das weiße.

kopflos.

 EkkehartMittelberg (17.11.12)
"An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind."
Manche glauben nicht nur nicht daran, sie können es nicht ertragen.
LG
Ekki
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