Schinkel, André:

Löwenpanneau

Gedichte


Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 22.10.09

Das Nachwort, das A.S. schrieb, heißt "Weiße Pünktchen". Ellipse also. Das, was nicht gesagt werden muss, was die Gedichte in schwarzen Buchstaben sagen. Es ist eine kleine Poetologie. Darin sagt er nicht nur, dass er die Gedichte diesmal nicht ordnete. Keine Zyklen, sondern magische Verse sind es. Ein Gedicht ordnet sich nicht unter, keinem Prinzip, auch nicht einem anderen Gedicht.
Im Gedicht spiegelt sich die Zerrissenheit des Künstlers: Im Gedicht ist er souverän, im Leben seinen menschlichen Bedürfnissen unterworfen. Im Gedicht ist er frei, im Leben unfrei. Mir fällt Holger Benkel ein, der die Freiheit des Künstlers auch für sein Leben durchsetzt; er lebt ein Existenzminimum, um ein dichterisches Maximum zu erreichen. André Schinkel ist nicht derart extrem konsequent in der Negation des bürgerlichen Lebens. Als Redakteur der Literaturzeitschrift Sachsen-Anhalts, Ort der Augen, ist er nicht ganz frei. Da gehört er auch anderen: Den Mitgliedern des Beirats, dem Mitspracherecht des Herausgebers, den Autoren. Aber das ist eine andere Zerrissenheit. Der Spagat, der im Literaturbetrieb die einzige Kompromiss-Art ist, droht den Künstler im Literatur-Macher zu zerreißen. Härter noch spaltet sich das Leben im Dichter, wenn er sich selbst gehören will. Hier steht er mit einem Bein in der Form, mit dem anderen im Inhalt – entweder du fällst oder du läufst. Eigentlich läuft dann das Gedicht, es läuft dir weg, will selber frei sein. Man sieht: Das lässt sich nicht ordnen, das geht seinen poetischen Gang. A.S. nennt das den „Anfang des vereinzelnden Parlierens“ und er sieht: Die Gedichte werden in ihrer Vereinzelung auch genauer.
Trotzdem bricht das bürgerliche Leben ein in die Sphäre des Dichtens, es geht auch gar nicht anders, denn nur selbst erlebte Welt kann Form und Ausdruck finden in allgemein gültigen Versen. A.S. erwähnt Liebe und Vaterschaft, spricht von temporärer Erfüllung: „...die Früchte der Liebe waren eine Zeitlang ihr Katalysator zugleich.“ Dann die Gegenbewegung, der Schreibende „gierte zugleich nach dem Überallhin, zeitweise erschien es mir, der ich es nicht ausleben konnte, wie der Spiegel der Welt.“ Klar, dass er Vollkommenheit im Schreiben sucht, die im Leben nicht zu finden ist, dass also die Wahrheit des Seins wenigstens im Vers klarer wird als im gelebten Leben. Genau das war das Motiv für André Schinkel, hineinzugehen ins Leben, auch wenn „der Moment der Erkenntnis ... selten und flüchtig ist.“ Selten habe ich einen Schriftsteller offener über sich selbst erlebt wie André Schinkel, der seine Feigheit vor dem Leben sieht und bekennt und als Künstler die einzige mögliche Konsequenz zieht: Mutig zu werden, um Dichter sein zu können. Leichter gesagt: Die Kunst braucht Material. Die Kunst braucht Stoff und Nahrung, wenn das Leben im Vers gerinnen soll. Schinkel musste heraus aus seinem „Autismus“ allzu zerebralen Schreibens: „Ich, der Lebensfeigling“, sagt er, „tat einen Blick aufs Leben, nun doch, litt daran und profitierte davon und erweiterte, noch im Moment der Angst, jede Fähigkeit zu verlieren, den Saum des Erreichbaren.“

Ich finde, das zeigen die Gedichte nun auch. Sie atmen stärker als die früheren Gedichte, weil mehr Leben in sie eingeflossen ist. Die früheren Gedichte waren nicht übel und sie waren nicht nur gedankliche Abstraktionen des Lebens; vor diesem Schicksal bewahrte sie die Metaphorik, die auf das Leben hindeutete. Nun aber sagen die Verse viel mehr als Anspielung auf Erlebtes, Erlittenes, Bedachtes, Gefühltes – jetzt ist es gelebtes und gewagtes Leben. Nicht dass nun die Ängste überwunden wären, das gelingt vielleicht nur dem Gedicht als Souverän der Gedanken und Gefühle, aber Schinkels vita activa rührt den Leser mehr an, zumal der nun viel mehr wagende Dichter seine Kampfzone ausgeweitet hat, er transzendiert in andere Dimensionen, er meißelt aus der Brut seiner Gedichte einen so feinen Humor, dass ich denke, so eine Heiterkeit ist das Maß der Ausgewogenheit zwischen Form und Inhalt, also Klassik.

Die Themen der in vier Kapitel eingeteilten Gedichte (also doch noch eine Ordnung?) umfassen das ganze Leben und die Kunst. Ich würde scheitern, versuchte ich, auch nur die besten Gedichte zu würdigen. Ich beschränke mich auf eins. „Löwenpanneau“ heißt das Gedicht, das dem Buch den Namen gibt.

Sehen Sie hier: die Lefzen des schleichenden Harems,
Unwiederholbar, als hätte sie Picasso gemalt,
Sagt Gerhard Bosinski, der es wirklich gesehn hat.
Ja!, und So ist es!, denkt man, nur daß Picasso
Gelebt hat vor fünfunddreißig mal tausend Jahren
Und mit dem Pinsel das Licht führen mußte,
Um den Fels zu erkennen; mit einer Hand den auf-
Steigenden Steindom abstützend oder der Schatten
Der Geister und Bären sich zu erwehrn. Jener
Picasso, den wir in unseren Träumen betrachten,
Bei seiner mühseligen Arbeit, im flackernden Rauch
Einer kiefernen Kerze, den Schurz mit Farbe be-
Kleckert, den Mund voll ockerner Erde. Und dieses
Das heiligste Bild, in einer Galerie verlehmter
Ikonen: die Tafeln der Löwen und Mammuts, weit,
Hinter den Balustraden der Gehörnten, Geduckten, die
Schnuppernden Flotze erhoben, auf blutiger Jagd.

André Schinkel deutet Picassos Künstlertum, der mit dem Pinsel das Licht führte, und erkennt (in der Grotte Chauvet im Tal der Ardèche) „Das heiligste Bild, in einer Galerie verlehmter Ikonen: die Tafeln der Löwen und Mammuts... auf blutiger Jagd“. Tertium comparationis ist die unveränderliche Wahrheit, die schon in der Höhlenmalerei vor fünfunddreißigtausend Jahren galt: Dass das Künstlertum im Leben verankert ist, und umgekehrt, und dass es im Leben wie in der Kunst um Leben und Tod geht. Die Kunst gibt es nicht ohne das andere, die Nichtkunst, das bloße Leben, das sich in seinem Erleben seiner selbst noch nicht bewusst werden kann. Die Kunst kommt immer danach. Nach dem Erlebten. Aber sie fließt nicht nur in sich selbst. Gedichte sind keine bloße Mechanik, sondern bewirken neues Leben. So gesehen wird Kunst auch ein Davor. Sie modelliert den denkenden und fühlenden Lebenden allmählich. Die Utopie solcher Dialektik ist klar: Es ist die Hoffnung auf eine Synthese: Lebenskunst. Schinkel nennt das „Gesamtkunstwerk der Grotte Chauvet... ein Urbild für Erfüllung und Hoffnung auf Befreiung durch die Kunst.“
Das Erfühlte und Geträumte kommt zur Sprache – und so reduziert sich im Selbstgespräch des Dichters der Zweifel an einer hoffnungslos scheinenden Welt. „Was ich gewann“, sagt Schinkel, „ist die Liebe zur Klarheit: die Gedichte, glaube ich, kommen zu mir und sprechen nun mit mir.“ Und mit dem Leser.

Ich habe seit Jahren keinen derart großartigen Gedichtband eines lebenden deutschsprachigen Lyrikers gelesen. Was Durs Grünbein immer mehr verliert, gewinnt André Schinkel: Sinnlichkeit und Überraschung in der Metaphorik, Gedanklichkeit im plastischen Lebensextrakt, Klarheit, stilistische Vielfalt, eine Leichtigkeit der Form, die erreicht wird, weil die Inhalte mit ihr Schritt halten und nicht davonfliegen, in manchen Gedichten wohnt eine heitere Stimmung, Humor entfaltet sich neben dem Ernst dessen, der wirklich etwas zum Leben zu sagen hat, weil er im Leben steht, der eine Sprache hat, die im besten und mehrfachen Sinn des Wortes den Leser unterhält. Diese Gedichte erzählen, erfühlen eine Welt. Sie denken und tanzen. Sie schwingen melodisch im Takt einer natürlichen, wenn auch elaborierten, Sprache. Sie schweigen und sagen viel. Manche sind still, manche lauter, einige sind politisch und klagen leise, niemals aber larmoyant, immer steht ein Geist drüber, dem du vertraust. Alle Verse bewegen dich, wenn du genau hinhörst. Wenn du ganz tief in die Verse hinein liest, streust du den Sand ins Getriebe deines Autismus! Lies die Bilder, die genau sind, von dir!

Ulrich Bergmann
Halle 19.10.2009
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