Arrigoni, Vittorio:

Mensch bleiben, Restiamo umani

GAZA, Dezember 2008 – Juli 2009


Eine Rezension von  Rudolf
veröffentlicht am 13.02.10

Zitat (S. 53): „Nimm junge Kätzchen, weiche Miezchen, und stecke sie in eine Schachtel. […] Versiegele den Karton gut und dann spring mit Deinem ganzen Gewicht und aller Kraft auf den Karton bis Du die Knöchelchen knacken hörst und ein letztes Miauen. […] Versuche Dir jetzt vorzustellen, was nach einer Sendung einer solchen Szene im Fernsehen los wäre. […] Es wäre besser gewesen als Tier geboren zu werden, denn als Palästinenser.“

Seit Jahrzehnten ist kaum ein Flecken auf der Welt in den Medien so präsent, wie die 10 mal 40 Kilometer des Gazastreifens an der Ostflanke des Mittelmeeres. Es erscheint wie eine Laune der Geschichte, dass ausgerechnet der Staat Israel dort ein Konstrukt betreibt, das Assoziationen an ein Konzentrationslager weckt. Euphemistisch wird es als Autonomiegebiet bezeichnet.

Auf dem Gazastreifen leben 1,5 Millionen Menschen. Er gehört damit zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt. Der Autor Vittorio Arrigoni wohnt in Gazastadt. Er schreibt für die italienische Zeitung il manifesto. Hautnah erlebt Arrigoni vom 27.12.2008 bis 18.01.2009 die Angriffe der israelischen Streitkräfte auf den Gazastreifen. Die militärischen Aktionen, die unter dem Namen Operation Gegossenes Blei bekannt werden, sind in den offiziellen Darstellungen die Reaktion des israelischen Staates auf das Abfeuern von Kassam-Raketen von palästinensischem auf israelisches Gebiet. In der Weltöffentlichkeit wird kaum wahrgenommen, mit welcher Brutalität und Schärfe das israelische Militär zu Land, zu Wasser und aus der Luft in diesen wenigen Tagen gegen Ziele auf dem Gazastreifen vorgeht.

Arrigoni berichtet während dieser Operation in seinem Webblog direkt aus Gazastadt, seine Berichte erscheinen in der italienischen Zeitung il manifesto. Da auch Krankenwagen nicht vor den Kugeln aus israelischen Präzisionswaffen sicher sind, stellt sich Arrigoni als menschlicher Schutzschild zur Verfügung und begleitet Krankentransporte. So kann er aus unmittelbarer Nähe von den hunderten ziviler Opfer berichten. Unter den Toten und Verletzten sind viele Kinder. Arrigoni berichtet von dem Leid der Helfer und der Hinterbliebenen. Er zeichnet ein Bild eines entrechteten, wehrlosen Volkes, dass der Willkür des übermächtigen Israel hilflos ausgesetzt ist.

Am Ende eines jeden Tages stellt er die Bilanz der Opfer auf beiden Seiten auf. Die Zähler bleiben auf palästinensischer Seite bei mehr als 1.300 Getöteten, darunter sind fast 400 Kinder, und mehr als 5.000 Verletzten stehen. Auf israelischer Seite sind im gleichen Zeitraum 4 zivile und 12 militärische Opfer zu beklagen.

Aus Sicht Arrigonis ist es der israelische Staat, der willkürlich Waffenruhen ausruft und bricht. Der Autor bezieht eindeutig Position für die Palästinenser. Er prangert an, dass selbst Krankenwagen unter Beschuss genommen werden, sogar Mitarbeiter der UNO gehören zu den Opfern. Damit entlarvt Arrigoni als Lüge, was in der Weltöffentlichkeit als chirurgischer Präzisionseingriff dargestellt wird. Hilfe wird während der Operation weder zu Land noch zu Wasser in das umkämpfte Gebiet gelassen.

Er beschreibt, wie das israelische Militär mit Kriegsgerät, dessen Gebrauch für Schlachtfelder geeignet ist, systematisch Wohngebiete, Moscheen, Kindergärten, Schulen, Waisen- und Krankenhäuser sowie Versorgungseinrichtungen zerstört. Selbst die Gebäude der UNO sind vor den Angriffen der Israelis nicht sicher. Zivile Personen werden von Heckenschützen gejagt. Panzer und Bulldozer verwüsten Felder und Olivenhaine. Fischerboote sind ebenso Ziel der Angriffe wie die Versorgungstunnel nach Ägypten. Nach Arrigonis Meinung sind die Gewaltausbrüche des israelischen Militärs allein darauf gerichtet die Palästinenser zu demütigen und zu demoralisieren. Den Kassam-Raketen auf palästinensischer Seite gibt er die Qualität selbstgebastelter Feuerwerkskörper.

Arrigoni erinnert daran, dass die Hamas demokratisch gewählt wurde und dass weder Hamas noch ihre Wähler Terroristen sind. Die Hamas ist eine Bewegung auf dem Gazastreifen, deren Zulauf sich auch durch die ständigen Drangsalierungen der israelischen Seite erklärt. Dass auch von palästinensischer Seite Gewalt angewandt wird, wird von Arrigoni nicht verschwiegen und er vergisst auch nicht, dass es auf israelischer Seite Opfer gibt, deren Zahl aber in keinem Verhältnis zu der Zahl palästinensischer Opfer steht.

Die einzelnen Tage beschließt der Autor mit dem Ausruf: „Restiamo umani“, was als „Mensch bleiben“, „Wir bleiben Mensch“, „Wir bleiben menschlich“, „Wir bleiben trotz allem menschlich“, „Lasst uns Mensch bleiben“ übersetzt werden kann.

Das Buch ist absolut lesenswert. Selbst wenn man die Meinungen von Vittorio Arrigoni nicht teilt, hilft es einem, sich mit der Situation der Palästinenser auseinander zu setzen und eigene Positionen zu überdenken. Die Berichte aus Israel über aggressive palästinensische Terroristen und unschuldige Israelis müssen letztlich als gefilterte Kriegsberichterstattung eingeordnet werden. Es bleibt der Verdacht, dass die Operation Gegossenes Blei eine menschenrechtsverletzende und kriegsverbrecherische „Wahlkampfaktion“ der israelischen Regierung im Vorfeld der Wahlen im Februar 2009 war, um einer rachsüchtigen israelischen Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.
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Kommentare zu dieser Rezension


 Rudolf (18.04.11)
Am 15. April 2011 wurde Vittorio Arrigoni im Gaza-Streifen ermordet aufgefunden, siehe  Wikipedia.

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