Jean-Paul Sartre:

Das Spiel ist aus

Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 29.07.10

Das Spiel ist aus.

„Vielleicht das Schönste, das Sartre geschrieben hat, ist das Textbuch zu dem Film „Les jeux sont faits“ (1947; als Theaterstück 1958): Dieses sprachlich einfache Werk ist ein Märchenspiel, in dem durchaus fraglich wird, ob Sartre mit der üblichen Kennzeichnung eines atheistischen Nihilisten zutreffend charakterisiert wird. Trotz der deutlich nur ‚mythologischen’ Verwendung tanszendenter Chiffren wird sichtbar, daß der Dichter Sartre den Denker zu überholen vermag.“ (Ernst von Aster)


Die Fabel.
Pierre, der Revolutionär, und Eve, eine Dame der Gesellschaft, sterben zu gleicher Stunde durch Gewalt: Er wird als vermeintlicher Verräter von Aufständlern erschossen, sie wird von ihrem Mann vergiftet, weil sie seiner Untreue im Wege steht. Sie begegnen sich in einer Schattenwelt, einem Reich der Toten, verlieben sich bis zu dem gewagten Anspruch: „Ich gäbe meine Seele, wenn ich um deinetwillen noch einmal leben dürfte.“ Sie dürfen in die Welt der Lebenden zurückkehren. Die Uhr des Schicksals wird zurückgestellt unter der Bedingung, dass sie sich vorbehaltlos der Liebe ergeben, um derentwillen ihnen das Leben wieder verliehen wurde. Aber die Vergangenheit stellt Forderungen, und sie verlieren das zweite Leben an der Unfreiheit des ersten.


Der Titel.
Ein hintergründiger Titel. Die Beziehung zum Roulette wird in der letzten Szene gegeben: „Wenn die Kugel einmal rollt ..., kann man eben seinen Einsatz nicht mehr ändern.“ Das Leben ist ein Spiel des Zufalls; und es steht von vornherein fest, wohin die Kugel rollt. Eve und Pierre, die beiden Helden der Geschichte, bewegen sich im Feld von Zufall und Notwendigkeit. Beide verlieren, haben den §140, ihre Chance, nicht wahrnehmen können. Aber sie haben es versucht, sie haben gekämpft, haben ihrem Leben einen eigenen Sinn zu geben versucht: Das ist heroischer Nihilismus.
In einem Interview mit Paul Carrière (Le Figaro 29.4.1947) sagt Sartre: „Mein erster Film, Das Spiel ist aus, wird nicht existentialistisch sein. Ganz im Gegenteil: der Existentialismus läßt keineswegs zu, daß das Spiel jemals aus ist. ... Mein Szenario ist ganz vom Determinismus geprägt, weil ich der Meinung war, daß es mir schließlich auch einmal erlaubt sein müßte zu spielen. Meine Legende endet im Grunde schlecht. Der Existentialismus dagegen ist eine optimistische Lehre.“ Ich werde zeigen, dass Sartres Spiel gar nicht so hoffnungslos ausgeht, wie er behauptet.
Les jeux sont faits - Eve und Pierre spielen eines von vielen möglichen Spielen. Hätten sie vielleicht (zufällig?) doch eines gewinnen können? Das bleibt offen. Eve und Pierre wünschen ihren ‚Nachfolgern’ am Schluss alles Gute, trotz ihres eigenen Versagens, ihres eigenen Pechs. Hatten Eve und Pierre in diesem seltsamen Feld zwischen Zufall und Determination die Möglichkeit zur freien Entfaltung ihres Willens? Haben sie einen freien Willen? Dies sind Hauptfragen, Rätsel unseres Lebens.


Die Namen.
Eve erinnert an die biblische Eva. in Sartres Filmbuch kommen Eve und Pierre nicht aus dem Paradies, sondern aus einer nachparadiesischen Welt ins Reich der Toten, wo sie sich verlieben, frei von gesellschaftlichen Zwängen. Aber sie können sich im Totenreich nicht körperlich lieben. Dort verharren sie im (unbefriedigenden!) Zustand der Unschuld. Sie werden durch einen mythologischen Trick wieder in die Welt entlassen. Dort müssen sie sich lieben, sonst haben (sind) sie verloren.
Ist Pierre Adam? Oder Petrus = der Felsen (auf den die Kirche gebaut ist)? Der Name gibt nicht viel her. Pierre ist Kommunist. Pierre ist ein Allerweltsname, immerhin, das passt zu den proletarischen Massen. Ist Eve die Schlange, die den Stein nicht erweichen kann? Pierre bleibt der Aufstandsbewegung der Arbeiter treu. Er wird gezwungen sich zu entscheiden zwischen privater Liebe und der Solidarität der Arbeiter, einer höheren Liebe.
Die Laguénesie-Gasse ist ein sprechender Name: Genesis. Hier werden Eve und Pierre wieder lebendig. Ein Gedankenexperiment wird erzeugt.


Trickfabel.
Sartre bringt mit der Laguénesie-Gasse seine Geschichte ins Rollen: Er erfindet eine Möglichkeit, seine Helden auf die Probe zu stellen. Eve und Pierre wird ihr neues Leben bewusster als ihr altes. Ihr neues Leben bekommt einen (diktierten!) Sinn: die Liebe, ein christliches Gebot, das hier stark auf die Erfüllung privater Liebe eingeschränkt wird. Es wird sich herausstellen, dass eben dies paradox, also unmöglich ist.
Das Reklamationsbüro entpuppt sich als Filiale einer höheren Autorität, die für das Lebens-Roulette verantwortlich ist. Das Büro ist ein Spiel des Philosophen Sartre. Er benötigt diesen Trick für die Probe von Eve und Pierre. Diese Probe ist die existentielle Situation des Menschen in der Welt überhaupt. Zugleich dient das der Erprobung des philosophischen Gedankenspiels.
Sartres Trick verdeutlicht und intensiviert unser (all)tägliches Leben. Kein Gott wird hier installiert, keine über den Menschen stehende Autorität. Trotz der spielerischen Einführung einer satirisch wirkenden Transzendenz bleibt die Einsamkeit menschlichen Seins absolut.


Absurdität des Seins?
Ist es in Ordnung, dass Sartre seine Helden in eine solche ausweglose Lage bringt, so dass sie scheitern müssen? Will er zeigen, dass unsere Existenz sinnlos ist?
Es sieht so aus, als ob es Sartre nicht so sehr darauf ankommt, dass seine Helden erfolg haben – wichtiger ist, dass sie um den Sinn ihres Lebens kämpfen. Nicht entscheidend ist, dass man gewinnt, sondern dass man gekämpft hat.
Fehlen da nicht Werte und Ziele? Für Sartre ist Mündigkeit der größte Wert. Wir sind verdammt allein zu sein. Es gibt keinen Gott. Wir sind gezwungen, uns an uns selbst und unseren Aufgaben und Zielen zu messen. Es gibt kein transzendentes Gericht, sondern immer nur eins in uns, in den Folgen unseres Tuns und in der Reaktion unserer Mitmenschen. Es ist der Mensch selbst, der sich in Absprache mit anderen Werte gibt, eine gesellschaftliche Verfassung.


Man stirbt immer zu früh ... oder zu spät.
Ein schwieriger Satz. Man stirbt zu früh, wenn man nicht die Chance erhielt, für ein Ziel zu kämpfen, sich einen Lebenssinn zu erarbeiten. Eve und Pierre starben zu früh, als sie ins Totenreich eintraten. Man stirbt zu spät, wenn man gar nicht erst die Arbeit für ein sinnvolles Leben beginnt, dann hat man umsonst gelebt. Eve und Pierre haben, als sie ihre zweite Lebenschance erhielten, für die Erfüllung ihrer Liebe und ein gerechtfertigtes gesellschaftliches Sein gekämpft, wenn auch ohne Erfolg. Sie starben weder zu früh noch zu spät, weil sie ihr Scheitern dialektisch aufhoben.


Scheitern als Gelingen?
Warum scheiterten Eve und Pierre? Ist ihr Scheitern repräsentativ für alle Menschen?
Eve und Pierre konnten ihre soziale Gegensätzlichkeit (unterschiedliche Herkunft und Klassenzugehörigkeit) nicht dauerhaft überwinden. Die soziale Herkunft bestimmt materielle Möglichkeiten, die Interessen und das gesellschaftliche Bewusstsein. Eve und Pierre müssen sich immer wieder überwinden, ihre sozialen Gegensätze zu verdrängen; das gelingt zeitweise nur unter Druck und Sachzwängen, nicht aber mit dem Herzen. Sie können ihre Vergangenheit nicht vergessen. Beide fühlen sich getrieben, ihre Probleme aus dem ersten Leben zu lösen, ehe sie ihre reine Liebe verwirklichen können. Am Ende ist die Vergangenheit stärker als die Gegenwart, das reale Leben stärker als das Wunschleben, die reine Liebe erweist sich als eine fragwürdige Utopie.
Pierre und Eve befinden sich in einer tragischen Situation, die Sartre gut konstruiert: Vernachlässigt Pierre seine revolutionäre Aufgabe, wird er sich selbst untreu. Konzentriert er sich auf die Liebe zu Eve, verrät er seine revolutionäre Verantwortung.
Pierre entscheidet sich für die Solidarität mit den Arbeitern (Nächstenliebe) gegen die private Liebe. Eve schafft es nicht, sich von den Verletzungen in der Vergangenheit zu lösen, sie scheitert an sich selbst. Auch ihr Kampf war berechtigt. Denn nur der Mensch, der zu sich selbst findet, kann zu anderen finden und damit zur Liebe.
Scheitern Eve und Pierre total?
Nein. Sie retten ein Kind, als sie gemeinsam ein Ziel verfolgten. Diese Tat ist das einzige, das ihnen in der Frist des zweiten Lebens gelingt. Aber das ist viel. Zeigt es einen Weg?


Hoffnung.
Sartre will zeigen, dass gesellschaftliche Probleme, Probleme, die viele betreffen, nur gelöst werden können, wenn die Probleme zwischen den Einzelnen gelöst werden. Gelingt uns der zwischenmenschliche Frieden, die Liebe, so gelingt uns der Friede mit allen. Die Liebe ist die Voraussetzung für das Gelingen unseres (gesellschaftlichen) Lebens.
In seinem märchenhaften Filmbuch Les jeux sont faits gibt Sartre die Hoffnung nicht auf. Ich denke, Ernst von Aster hat recht, wenn er sagt, als Dichter überholt Sartre sich selbst als nihilistischen Philosophen.


29.9.1982 / 29.7.2010

Jean-Paul Sartre, Das Spiel ist aus. rororo 10059, 5,95 €
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