Gastev, Aleksej:

Ein Packen von Ordern

Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 24.03.11

Aleksej Gastevs Manifest Ein Packen von Ordern (1921)
Ostheim/Rhön (Verlag Peter Engstler) 1. Auflage 1999
Erste vollständige Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche und Nachwort von Cornelia Köster

Aleksej Gastev war ein politisch Handelnder, der sein künstlerisches Werk als politische Aktion sah. Er ist so gesehen ein Vorläufer des Gedankens der sozialen Plastik von Beuys. Ein entscheidender Vers steht im Zentrum des Manifests – in Order 05: „Die Literatur vernichten.“ Das ist ein utopischer Gedanke: Die Lösung der sozialen Widersprüche mit Hilfe eines von Maschinen unterstützten Verstands nach Maßgabe der Vernunft, die sich in der kommunistischen Ideologie manifestiert, soll alle Künste überflüssig machen. Gastev sieht in der Literatur nur die Kompensation des Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Eine solche Literatur ist also Opium des Volks und muss abgeschafft werden. EIN PACKEN VON ORDERN bedient sich ein letztes Mal künstlerischer Mittel – aber eigentlich nur noch in den äußeren Formen: Struktur (Anlehnung an den biblischen Dekalog), Versgestalt, und eine gewisse Metaphorik, die aber einer eindeutigen Vernunft untergeordnet ist und wenig Deutungsfreiraum bietet. In einem kurzen Vorwort sieht Gastev sein „Libretto akuter Vorgänge“ als „Signal“ für den Aufbruch der Menschheit „aus dem wirren Chaos dieser Tage“. Das 10 Seiten lange Poem ist ein Manifest mit weit über Postulate hinaus gehenden Befehlen (Ordern), die ausdruckslos, ohne Pathos vorzutragen sind; so steht es in der „Technischen Anweisung“, einer Leseanleitung, nach dem kurzen Vorwort. Der Vortrag soll der unerbittlich genauen und genormten Maschinenarbeit gleichen.

Der ästhetische Reiz der Order ist für mich gering, nicht nur weil ich im Westen aufwuchs in einem Klima manchmal ungeheuerlichen Individualismus. Die gedankliche Seite finde ich abschreckend, die Befehle sind kein Spiel. Ich lese alle ideologische Überfrachtung mit der Angst vor der Diktatur eines Robespierre oder Hitler. Die Vernunft lässt sich nicht mit der Guillotine durchsetzen oder mit Befehlen verordnen. Es gibt nicht die eine Vernunft, denn es gibt auch nicht die eine Realität, schon gar nicht die eine Perspektive. Ich kann der Ästhetik eines in sich geschlossenen wahr scheinenden philosophischen Systems gedanklich für eine Weile erliegen – so erging es mir in den Jahren 1967ff., als ich Marx und Lenin las und den Vietnam-Krieg ablehnte und die Doppelmoral des westdeutschen Regimes, das sich beim Schah-Besuch so deutlich offenbarte wie auch in diesem Jahr angesichts der arabischen Freiheitsbewegung. Aber meine (Selbst-)Verführung durch die Einfachheit geschlossener Gedanken-Systeme war zugleich gebrochen durch ein unauslöschliches Bewusstsein, dass nur ein individuelles Leben mich glücklich machen kann, ein offenes Leben, das keinem System gehorcht, außer temporär und wandelbar. Ich wollte mein Leben als offenen Prozess. Mein Studium der Literatur zeigte mir, dass die besten Ansätze der Aufklärung mit der Zeit entarteten. Ich liebte Lessing, später auch die Ausgewogenheit von Vernunft und Gefühl in der Klassik, aber ich blieb kritisch. Nichts überzeugte mich mehr als Hegels Gesetz der dialektischen Bewegung, das ich in der allgemeinen und meiner individuellen Geschichte erkenne – nur teile ich nicht den Fortschrittsglauben, allenfalls kann ich eine partielle und relative Vollendung hier und da sehen. Aber der Glaube an eine erfassbare feststehende Realität (als Zustand) oder Wirklichkeit (als Prozess) ist nach lang andauernder Kindheit meines Geistes längst erschüttert, und das hat auch Befreiendes. Im Zusammenhang mit Gastevs PACKEN VON ORDERN denke ich zurück an ein verdammt wichtiges Buch, das ich las, als ich 16 Jahre alt war, ja ich verschlang dieses Buch mit heißem Kopf: Wolfgang Leonhards autobiographische Schilderung DIE REVOLUTION ENTLÄSST IHRE KINDER (1955). Ich verstand nicht alles in dem leidenschaftlich geschriebenen Buch, aber ich begriff, dass Ideologie sehr schnell zur Verlogenheit und zur Verbiegung der Gefühle führt, dass die Rechtfertigung des Individuellen aus dem Überindividuellen krank macht.
Ich bin Janus. Ich schaue zurück in mein DDR-Leben, das ich nur als Kind erfuhr, das aber durch die Trennung von meiner Mutter weiter in mir wirkte. Wäre mein Vater nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt: Ich wäre nicht in den Westen gekommen. Oft habe ich überlegt, welche Zwänge schlimmer sind: Die politische Unfreiheit und Fremdbestimmung im Osten oder die sozialen Widersprüche im Westen – meine Antwort bleibt klar: Freiheit ist mir wichtiger als soziale Sicherheit.

Die historische Situation war 1921 eine ganz andere. Daher ist klar, dass mein Urteil als heutiger Leser ein anderes ist als das eines fortschrittlichen Lesers vor 90 Jahren in einem Land, in dem Menschen als Untertanen vor der Revolution wie Tiere behandelt wurden. Die grundsätzlichen Fragestellungen sind jedoch gleich geblieben, die Frage nach der Funktion der Kunst und der richtigen Politik und die Möglichkeit der logisch funktionierenden Maschinen.

Anmerkungen zu den einzelnen Befehlen.

Order 01
Militärische Ausrichtung der Arbeiter („Stillgestanden!“), die hier vielleicht als Repräsentanten der ganzen Gesellschaft zu sehen sind. Das Kollektiv als Maschine. Ausgerichtet auf eine Maschine („Manometer“), behelmt („Gußeisernes Augenband.“), also eine einzige Perspektive? Aber wer befiehlt? Die Partei? Der Generalsekretär? Oder befiehlt die Partei-Ideologie in jedem Einzelnen gleichzeitig, so dass die Order ein Selbstbefehl ist?
„Feuer längs der Linie.“ Eine Metapher für Verbot und Bestrafung: „Flach zu den Stirnen...“ „Dreißig erwischt, - Makulatur.“ Eine geringe Fehlerquote. Wie eine Armee werden „Tausend A gen Ost.“ geschickt, und „Kolonne 10 nach West.“ Armee und Arbeiterkollektiv werden eins, vielleicht nicht nur gedanklich, sondern auch konkret. Rätselhaft die letzte Zeile: „Neunundzwanzigtausend, - wie tot.“ Ist die Armee von der Arbeit, vom Kampf, vom Marsch erschöpft, oder soll sie willenlos dem sozialistischen Ziel dienen? – Metaphorik als Vergleiche, nicht immer eindeutig.

Order 02
Die Arbeit beginnt: „An die Maschinen.“ Mensch und Maschine arbeiten zusammen, sind eine Einheit. Alles läuft nach Plan. – Kaum noch metaphorisch.

Order 03
Steigerung der Arbeitskraft mit medizinischen Mitteln, Steigerung der Arbeiterzahlen (Zehn, Hundertschaft, Eintausend, Million) und Arbeitsorte (Dreißig Städte, Zwanzig Staaten). „Agitkanonade“ lese ich als Propaganda. Alles ist dem großen Ziel unterworfen, das nie sehr konkret genannt wird. – Klare Strukturierung.

Order 04
Massenhafter Bau von Siedlungen, Straßen und Städten gleichsam in maschineller Herstellung. – Ähnliche Beschreibung wie in 02.

Order 05
Weltrevolution. Rückblickend wird das Ziel der Arbeit in 01-04 klarer: Die ganze Welt, das ganze Universum ist das Eroberungsziel und wird dem kommunistischen Ziel unterworfen.
Eine letzte Totenmesse soll den im Kampf gefallenen Gegnern gelten (der Begriff der Messe ist hier wohl ironisch, fast schon zynisch gemeint als Abschied von einer überwundenen Welt). Das „Weltgeheul in den Katakomben“ meint vielleicht in Anspielung auf die später siegreichen Christen den Sieg der unterdrückten Proletarier, die aufgerufen werden: „Millionen, in die Zukunftsluken“, sie sollen zu Waffen werden. Der nicht ideologisch organisierte Verstand soll eingesperrt werden, ebenso individuelle Gefühle, die sich gegen die kollektive Vernunft richten. Der Bourgeois wird umfunktioniert (Z. 7-10).
Die ganze Welt soll sich empören gegen Unterdrückung (Z. 11). Dann folgt die Vereinheitlichung der Sprache(n) und ihrer Begriffe; nur noch eine einzige Sprache, die russische – oder kommunistische.
„Sätze im Dezimalsystem. / Fabrikschmiede der Rede.“ Die Sprache soll klar werden, verständlich und praktikabel für jeden – also Vereinfachung und Vereinheitlichung, d. h. dann allerdings auch Stagnation von Sprache und Denken, also auch Stagnation der sozialen Entwicklung. Zusammen mit dem folgenden Befehl („Die Literatur vernichten.“) steht hier im Zentrum des Befehlssystems der größte Widerspruch des gesamten Textes. Denn das Ziel der Vollendung entlarvt sich hier als Stillstand der Bewegung („Stillgestanden!“), und das ist der eigentliche Friedhof der Bewegung – der Mensch macht sich überflüssig, wenn er zur vollkommenen Maschine wird.
„Tunnel zu Kehlen machen. / Sie zum Sprechen bringen.“ Die Metaphorik ist schwer zu deuten. Ich denke, dass hier nicht das individuelle Unbewusste gemeint ist, sondern das soziale Unterdrücktsein, das sich artikulieren soll (vgl. die Katakomben in Z. 2).
Der Himmel – hier nun deutlich ironisch angesprochen – soll sich ärgern („... ins Rot zur Erregung.“), ein deutlicher Hieb gegen Kirche und Religion.
Der Schluss des insgesamt längsten Befehls (Z. 19-23) beschwört wieder die Einheit in der Genauigkeit und intensiven Leistung von Mensch und Maschine.
Gastev schreibt in der „Technischen Anweisung“, dass die 5. Order parallel zu den anderen Ordern vorgelesen werden kann. Sie ist das ‚Herz’ des Manifests, denn sie enthält die Motivationen, die den beherzten Kampf begleiten sollen: „Arterienpumpen, legt los.“

Order 06
Die Welt wird zur globalen Zukunfts-Sinfonie. Asien, Amerika und Afrika. Die Musik wird hier zur Metapher des Zusammenklangs, der Schönheit und Kraft der Bewegung. Allerdings heißt es im Schluss-Vers: „Orchestergraben zuklappen.“ Das entspricht dem Satz in Order 05: „Die Literatur vernichten.“

Order 07
Wieder weltweite Arbeit der Bewegung: Aufbau neuer Technik: Infrastruktur, Verkehr und Kommunikation. Eine Revolution der Gesundheit soll in Gang gesetzt werden: „20 Millionen Krüppel auf die Beine bringen.“ Es folgt die Verherrlichung der weltweiten Sportbewegung (Z. 10, 18), die hier vielleicht nur ein Bild für die Funktionalität und Gesundheit des Körpers ist, und schließlich die Apotheose des Körpers in der letzten Zeile: „Horcht auf die Sportler, ihr Körper ist Poesie.“ Das passt zwar gut zur Gleichschaltung von Mensch und Maschine, aber der Poesie-Begriff, der eben noch überwunden werden sollte, lebt neu auf: Das ist die Aufhebung der alten Poesie in einer neuen Poesie. Anders gesagt: Eine Welt, die keine Poesie mehr nötig hat, wird selbst die reinste Poesie...
In Gastevs Befehl: „Sonne eine halbe Stunde ausschalten... Sonne wieder einschalten.“, wirkt der Fortschrittsglaube und die Allmachtsphantasie des siegreichen Kommunismus ziemlich komisch übertrieben.

Order 08
Der metaphorischste Befehl: Die Geschichte der letzten zwanzig Jahrhunderte wird in Bildern der maschinellen Verarbeitung neu aufgemischt, eine Million Jahrhunderte pro Minute werden gleichsam neu gekocht und der gesamten Menschheit verabreicht: Durch die Weltrevolution entsteht der neue Mensch.
Die Order besticht durch ihren Rückfall in die poetische Sprache, die mit kontrastierenden expressiven Farben und Bildern die Dynamik und Geschwindigkeit der revolutionären Bewegung als Umkehrung der Apokalypse postuliert.

Order 09
Noch einmal der Befehl zur letzten Schlacht – militärisch, geistig, maschinell. Interessant sind wieder die Bilder für den geistigen Kampf: „Schlacht der Syllogismen. ... Die Hirne durchwaschen.“ Eine neue Sprache, ja eine neue (ideologische) Logik muss her, ein neues, verordnetes Einheitsdenken!
Ungeheuerlich, wie die Menschenmassen instrumentalisiert werden:

„Orientierung im Raum weghauen.
Zeitgefühl einschalten.
Finsternis auf die Massen fallen lassen.
schichtweise Staudämme von Menschen.“

Hier wird der Mensch zum bewusstlosen Material der Befehlenden und in einer Materialschlacht aufgeopfert – das klingt wie eine Vorahnung auf die spätere Zeit des Stalinismus.
Der Schluss der 9. Order gipfelt in einem für die Zeit des Totalitarismus nicht untypischen Biologismus: „Hirnbefreite Frauen, gebärt. / Gebärt auf der Stelle, es eilt.“ Da wird die Frau zur Gebärmaschine für neue Gebärmaschinen und die Soldaten der Zukunft.

Order 10
Passend zum Gedanken der Materialschlacht im Interesse eines fragwürdigen Fortschritts nach Maßgabe einer einheitlichen Weltideologie lautet der letzte Befehl:

„Meldung erstatten: sechshundert Städte – Probe bestanden.
Zwanzig Städte hin – Ausschußware.“

Das hatten wir schon in der 1. Order: Eine relativ kleine Fehlerquote. Aber ein Maximum an Entmenschlichung.

Gastev überschätzt die Kraft des Verstands und der Maschinen und ideologischen Algorithmen. Er unterschätzt Gefühle und Individualität des Einzelnen. Sein Dekalog ist der Versuch, eine Zweite Aufklärung zu initiieren, die machtvoller als die Auflärung im 18. Jahrhundert der nun sozial akzentuierten Vernunft zum Sieg verhilft. In der Tat wirken einige Stellen unfreiwillig komisch, weil unser Glaube an die Vollendung sozialer Utopien nach dem Scheitern der Französischen Revolution, dem Scheitern der nationalsozialistischen und sowjetischen Diktatur, aber auch angesichts der wachsenden Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Demokratie erschüttert ist, so dass ein Pathos der Fortschrittsleidenschaft befremdet. Dieses Pathos steht auch im Widerspruch zu Gastevs philosophischem Fundament einer leidenschaftslosen Orientierung an Verstand und Vernunft.

23.3.2011
Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu dieser Rezension


 Nicht registrierter NutzerWellblecheisenbahn (26.03.11)
"dem Scheitern der nationalsozialistischen [...] Diktatur" - na Gott sei dank ist die gescheitert...
- Wieder ein interessanter Literaturtipp!

Zurück zur Liste der  Rezensionen von Bergmann , zur Autorenseite von  Bergmann, zur Liste aller  Buchbesprechungen
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram