Thomas Hettche:

Herzfaden

Roman der Augsburger Puppenkiste


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 18.04.23

Die Augsburger Puppenkiste gehöre zur DNA dieses Landes, preist btb „Herzfaden“ von Thomas Hettche an, den „Roman der Augsburger“ Puppenkiste“. Leider ist Jim Knopf ebenso an mir vorbeigegangen wie Urmel aus dem Eis, und deshalb nahm ich das Buch nicht ohne inneres Widerstreben zur Hand. Und dies Widerstreben steigerte sich noch, als ich die ersten 100 Seiten über die Zeit des Zweiten Weltkriegs las. Ich fragte mich: Was wollte der Autor? Wollte er einen Bucherfolg mit Hilfe der sehr bekannten Augsburger Puppenkiste erzielen? Ich fand ein Interview mit Thomas Hettche in der Berliner Zeitung, und da sagt er:

„Mein Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass nicht die Vatergeneration, also der Gründer Walter Oehmichen, wesentlich für die Puppenkiste war, wie wir sie alle kennen, sondern die Generation seiner Töchter. Das ist die Generation meiner Eltern, und ich weiß aus Erzählungen, dass diese Menschen, die ihre Kindheit im Faschismus erlebt haben, sich nach 1945 belogen und verraten fühlten, weil sie ihre kindliche Begeisterung an etwas verschwendet hatten, das sich als grundfalsch herausstellte. Durch diese Erfahrung, scheint mir, ist jene Generation ihr Leben lang davor zurückgewichen, sich noch einmal für etwas zu begeistern. Ich glaube, dass das prägend für dieses Land war.“
 
Mit Jahrgang 1941 gehöre ich dieser Generation kaum noch an, aber es genügte, um mein Interesse zu wecken. Wie geht Hettche mit dieser Desillusionierung um? Wie stellt er sie dar? Fand sie überhaupt bei allen oder wenigstens bei vielen der in den20er und 30er Jahren Geborenen statt? Mein 20jähriges Kindermädchen war 1946 mit mir durch die Wohnung getanzt und hatte mich durch ihre Fröhlichkeit, Musikalität und Sangesfreude entzückt. Sie war Leiterin eines Chors von BDM-Mädchen gewesen. Jetzt ist sie 97 und immer noch völlig klar. Ich habe sie gefragt, wie sie 1945 erlebt hat – als Niederlage? Als Befreiung? Als Zusammenbruch all ihrer Ideale? Nichts von alledem. Sie war verliebt und wollte eine Familie gründen. Das hat sie mit Erfolg getan. Von einem Bruch – keine Spur. Ich wollte wissen, was für ein Lied sie mit ihrem Chor meiner Mutter als Ständchen gebracht hat, als sie mich geboren hatte. War es „Siehe, es leuchtet die Schwelle, die uns vom Dunkel befreit“ – von Baldur von Schirach? Oder das schöne alte Volkslied „Grüß Gott, du schöner Maien, da bist du wiedrum hier!“ (BDM-Liederbuch „Wir Mädel singen“, 2. Auflage, Wolfenbüttel und Berlin 1939, S. 46)? Sie konnte sich nicht erinnern.

Hettche hat seinen Roman auf zweierlei einander abwechselnde Texte verteilt:
-          Einen märchenartigen, der in der Gegenwart spielt, von einem Mädchen, das wie Alice in Wonderland in eine andere Welt eindringt oder sich verirrt, und das ist der mit Marionetten vollgestopfte Dachboden des Puppentheaters, wo sie der bereits längst verstorbenen Hannelore Oehmichen, genannt Hatü, begegnet, die ihr die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt, und Handlung ergibt sich hier daraus, dass ein böser Kasperl dem Mädchen sein iPhone wegnimmt. Dieser Teil des Buches, geschätzt etwa ein Drittel des Volumens, ist rot gedruckt.
-          Und einen dunkelblau gedruckten, der im Stil eines Dokumentarspiels referiert, woran Hatü, Jahrgang 1931, sich erinnert haben mag. Beide Teile, der rot gedruckte (wie alle Märchen im Imperfekt erzählt) und der im Präsens erzählte dunkelblau gedruckte, sind nicht zwingend miteinander verknüpft insbesondere dadurch, dass beide in der dritten Person erzählt werden – Hatü ist sowohl im Märchen als auch im „Dokumentarspiel“ Hatü, letzteres wird nicht von Hatü in der Ichform erzählt, was ich bedaure, aber auch verstehen kann, denn der 2003 verstorbenen Mitgründerin und genialen Puppenkopfschnitzerin Hannelore Oehmichen rund zwei Drittel des Romans in den Mund zu legen, hätte den Autor von seinem eigenen Beitrag allzu sehr freigesprochen.

Wie stellt Hettche die Desillusionierung der im Faschismus Aufgewachsenen nun dar? Als guter Autor verrätselt er sie mehrfach:
-          In dem Lied „Flamme empor“, das, wie der Autor hervorhebt, aus den Befreiungskriegen stammt, aber durch die intensive Ingebrauchnahme durch die Nazis gleichsam kontaminiert wurde: „Als ich so alt war wie du,“ sagte Hatü zu dem Mädchen im Märchenteil, „habe ich dieses Lied sehr gemocht. Aber nach dem Kriege war alles, was wir gemocht hatten, plötzlich verschwunden. Und doch war es immer noch da. Und wir fühlten uns schuldig deshalb.“ (S. 107) Der böse Kasperl singt dieses Lied mit krächzender Stimme …
-          In dem Lied Baldur von Schirachs „Siehe, es leuchtet die Schwelle, die uns vom Dunkel befreit“, das Ulla, Hatüs ältere Schwester, bei einer rituellen Sonnwend-Weihnachtsfeier 1944 vorsingt und dabei den Blick nicht vom Oberscharführer Menkes lässt … Dieses Lied ist sicherlich mitgemeint, wenn Ernst Wiechert in seiner offenbar auch in Augsburg gehaltenen Rede (November 1945) „An die deutsche Jugend“, von den neuen Fahnen und neuen Liedern spricht, mit denen die deutsche Jugend verführt wurde. Hatü muss Ulla ansehen, als sie das hört, und ihre Schwester tut ihr leid. Das Lied taucht noch einmal auf, als Hatü mit ihrem Vater über die Nazizeit spricht: „Du warst doch kein Nazi!" Trotzdem, es ist vorbei. Vielleicht ist es nicht vorbei? denkt Hatü und erinnert sich: … Hinter ihr strahlet die Helle/Herrlicher, kommender Zeit.
-          In der Gestalt des bösen und bösartigen Kasperl, in dem ich zunächst nur eine Widerspiegelung des Horrorclowns Pennywise aus Steven Kings Roman „Es“ erkennen konnte – aber dann gibt Hatü selbst im Rotgedruckten S. 261 die Auflösung: „Mir war peinlich, dass ich als Kind einen Kopf geschnitzt hatte, der genauso aussah wie die furchtbaren Bilder der Juden, die die Nazis überall zeigten. Und dass ich vor einem solchen Zerrbild Angst hatte. Denn das bedeutet, ich bin überhaupt nicht besser gewesen als sie.“

Mit Hettches Schilderung der Kriegs- und Nazizeit hadere ich, weil sie mir zu deutlich zeigt, dass die Oehmichens überwiegend nur widerwillig der Nazipropaganda auf den Leim gingen. Die Omama benennt die schrecklichen Verluste im Osten, macht Witze über die Nazis, in Gesellschaft wird über den großmäuligen Göring gelästert, die beiden BDM-Schwestern Hatü und Ulla nehmen zur jüdischen Familie Friedmann Kontakt auf, die dann deportiert wird, der fanatisch linientreue Biologie- und Rassismuslehrer wird als "Urwaldheini" verspottet,  Walter Oehmichen inszeniert nicht völlig systemkonforme Stücke, in der BBC wird gerade eine der Reden Thomas Manns übertragen … Es wird für mich nicht deutlich, wie in dieser Umgebung die „kindliche Begeisterung“, von der Hettche im Interview spricht, entstanden sein soll, und dadurch fehlt die nötige Fallhöhe zur Nachkriegszeit. Aber er erwähnt, er habe 100 Manuskriptseiten vernichtet; ich könnte mir denken, dass sie genau das enthielten, was ich vermisse: Die Beschreibung der Verführung durch die Nazis. Und es war vielleicht gut, sie zu vernichten, weil der Autor sich sonst dem Verdacht ausgesetzt hätte, für ihre Ideologie zu werben, oder dem, die Betroffenen mit der Sogkraft des Faschismus entschuldigen zu wollen. Ernst Wiecherts Rede „An die deutsche Jugend“ ist vielleicht der Schlüssel, ich habe sie mir gleich bestellt, um sie vollständig zu lesen.

Auch für Nichtfans der Augsburger Puppenkiste ist Hettches Roman „Herzfaden“ sehr lesenswert.
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Kommentare zu dieser Rezension


 Dieter_Rotmund (10.05.23, 16:49)
Habe die erste Seite gelesen und muss sagen: Nein, gefällt mir nicht.

 Quoth meinte dazu am 25.05.23 um 08:24:
Die zweite hätte es vielleicht gebracht ... Aber so viel Leseausdauer kann man von einem Foren-User nicht verlangen!  8-)

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