Leyshon, Nell:
Ich, Ellyn
Roman, aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Eine Rezension von Quoth
Ein fesselndes Buch, in dem mit Hilfe der immer besser werdenden Sprache der Ich-Erzählerin Ellyn gezeigt wird, wie ein Bauernmädchen sich aus Schlamm, Scheiße, Gewalt und Sklaverei durch ihre tolle Gesangsstimme herausarbeitet, zugleich ein Hohelied auf Weiblichkeit. Freilich muss sie sich dafür in einen Jungen verwandeln, denn nur Knaben vor dem Stimmbruch werden in Chöre aufgenommen. Sie lernt Lesen und Schreiben, lernt gut genug Latein, um die Gesangstexte aussprechen zu können, lernt Noten lesen und singt mit in einem 40stimmigen Chorwerk zum 40. Geburtstag von Königin Elizabeth I. Ihr innerer Halt dabei ist ihre kleine, noch in der Wiege liegende Schwester Agnes, der sie diesen Weg eines Tages auch ermöglichen will.
Bei dem Chorwerk handelt es sich, wie ich herausgefunden habe, um die Komposition „Spem in alium“ von Thomas Tallis, tatsächlich 1573 zum 40. Geburtstag der Königin uraufgeführt und auch heute noch in neueren Produktionen wunderschön anzuhören.
Da die englische Originalausgabe „The Singing School“ des Romans im Netz nicht greifbar ist, habe ich die Vermutung, dass die Autorin sie zurückgezogen haben könnte, und ich habe auch gefunden, was sich als Grund dafür anbietet. Dies ist nur eine Vermutung, wie ich betonen möchte.
Als Ellyn, die jetzt John heißt, zu den ausgesuchten Sängern des Chores für die Königin gehört, bekommt sie den bereits erwachsenen früheren Chorknaben Philip (jetzt Tenor oder Bass) als Betreuer. Er erweist sich als sehr fürsorglich, aber zum Schluss lotst er Ellyn/John mit der Behauptung, jemand wolle ihn sprechen (Ellyn glaubt: vielleicht die Königin, die ihre Stimme sehr gelobt hat) in die Kapelle und versucht, sich dem vermeintlichen Knaben erotisch aufzudrängen. Seiner Gewaltsamkeit nicht gewachsen, greift Ellyn zum letzten Mittel: Sie zieht ihre Sachen aus und enthüllt sich als Mädchen. Er reagiert sofort mit den Worten: „Du bist widerlich.“ Und dann verbietet er ihr, wieder ins Bett im Schlafsaal zu gehen, er schubst sie hinaus , schlägt und tritt sie und sagt: „Hau ab, du Drecksfotze“. Dann verschwindet er.
Dieser Schluss des Buches ist für mich eine Enttäuschung. Ich glaube, unter Homosexuellen ist Frauenfeindlichkeit geringer als unter Heterosexuellen u.a. deshalb, weil Frauen sie sexuell nicht unter Druck setzen können. Homosexuelle ahmen Frauen nach, machen sich über sie lustig, verehren sie (vor allem wenn sie eine Stimme haben wie Maria Callas) – oder lassen sie links liegen. Insofern ist dieser Schluss homophob, er verunglimpft einen Homosexuellen. Ich könnte mir denken, dass die Autorin das umschreiben will. Der homosexuelle Philip könnte ja gemerkt haben, dass mit John etwas nicht stimmt – spätestens als Ellyn tagelang unter heftigen Schmerzen ihre Regelblutung bekommt und das nur mühsam verbirgt. Er könnte zum Teilhaber ihres Geheimnisses werden, sein Begehren könnte in Bewunderung umschlagen und er könnte ihre Karriere als Sängerin solidarisch unterstützen …
Wie Ellyns zu Beginn bildungsfern-simplifizierte Kindersprache sich im Englischen liest, hätte ich gern gelesen – aber die englische Originalausgabe ist nirgends zu finden. Für die Übersetzerin Wibke Kuhn war der Text sicherlich eine Herausforderung (vielleicht aber auch eine willkommene Abwechslung), die sie durchaus lesbar und verständlich gemeistert hat. Ein Buch nicht nur für Frauen!
31.05.2023
Auf meine Nachfrage erhielt ich von einer Mitarbeiterin des Verlags diese Antwort:
Rätselhaft! Romane werden oft auf der Grundlage des Manuskripts übersetzt, aber dass sie dann nur in der Zielsprache herauskommen, ist ungewöhnlich. Haben sich englische Verleger an den sprachlich ausgefallenen und sehr artifiziellen Text nicht herangetraut?
Bei dem Chorwerk handelt es sich, wie ich herausgefunden habe, um die Komposition „Spem in alium“ von Thomas Tallis, tatsächlich 1573 zum 40. Geburtstag der Königin uraufgeführt und auch heute noch in neueren Produktionen wunderschön anzuhören.
Da die englische Originalausgabe „The Singing School“ des Romans im Netz nicht greifbar ist, habe ich die Vermutung, dass die Autorin sie zurückgezogen haben könnte, und ich habe auch gefunden, was sich als Grund dafür anbietet. Dies ist nur eine Vermutung, wie ich betonen möchte.
Als Ellyn, die jetzt John heißt, zu den ausgesuchten Sängern des Chores für die Königin gehört, bekommt sie den bereits erwachsenen früheren Chorknaben Philip (jetzt Tenor oder Bass) als Betreuer. Er erweist sich als sehr fürsorglich, aber zum Schluss lotst er Ellyn/John mit der Behauptung, jemand wolle ihn sprechen (Ellyn glaubt: vielleicht die Königin, die ihre Stimme sehr gelobt hat) in die Kapelle und versucht, sich dem vermeintlichen Knaben erotisch aufzudrängen. Seiner Gewaltsamkeit nicht gewachsen, greift Ellyn zum letzten Mittel: Sie zieht ihre Sachen aus und enthüllt sich als Mädchen. Er reagiert sofort mit den Worten: „Du bist widerlich.“ Und dann verbietet er ihr, wieder ins Bett im Schlafsaal zu gehen, er schubst sie hinaus , schlägt und tritt sie und sagt: „Hau ab, du Drecksfotze“. Dann verschwindet er.
Dieser Schluss des Buches ist für mich eine Enttäuschung. Ich glaube, unter Homosexuellen ist Frauenfeindlichkeit geringer als unter Heterosexuellen u.a. deshalb, weil Frauen sie sexuell nicht unter Druck setzen können. Homosexuelle ahmen Frauen nach, machen sich über sie lustig, verehren sie (vor allem wenn sie eine Stimme haben wie Maria Callas) – oder lassen sie links liegen. Insofern ist dieser Schluss homophob, er verunglimpft einen Homosexuellen. Ich könnte mir denken, dass die Autorin das umschreiben will. Der homosexuelle Philip könnte ja gemerkt haben, dass mit John etwas nicht stimmt – spätestens als Ellyn tagelang unter heftigen Schmerzen ihre Regelblutung bekommt und das nur mühsam verbirgt. Er könnte zum Teilhaber ihres Geheimnisses werden, sein Begehren könnte in Bewunderung umschlagen und er könnte ihre Karriere als Sängerin solidarisch unterstützen …
Wie Ellyns zu Beginn bildungsfern-simplifizierte Kindersprache sich im Englischen liest, hätte ich gern gelesen – aber die englische Originalausgabe ist nirgends zu finden. Für die Übersetzerin Wibke Kuhn war der Text sicherlich eine Herausforderung (vielleicht aber auch eine willkommene Abwechslung), die sie durchaus lesbar und verständlich gemeistert hat. Ein Buch nicht nur für Frauen!
31.05.2023
Auf meine Nachfrage erhielt ich von einer Mitarbeiterin des Verlags diese Antwort:
vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihr Lob für Wibke Kuhns Übersetzung, über das sie sich sicherlich sehr freuen wird.
Da Sie die fehlende englischsprachige Ausgabe erwähnen: Das Buch hat keinen Verlag für die Originalausgabe, es gibt also keine. Nell Leyshon wird den Roman aber nicht, wie sie vermutet haben, umschreiben. Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht, sodass sie nicht weiter nach Originalausgabe suchen müssen.
Da Sie die fehlende englischsprachige Ausgabe erwähnen: Das Buch hat keinen Verlag für die Originalausgabe, es gibt also keine. Nell Leyshon wird den Roman aber nicht, wie sie vermutet haben, umschreiben. Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht, sodass sie nicht weiter nach Originalausgabe suchen müssen.
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