Thomas Pynchon:

Die Versteigerung von No. 49

Roman, aus dem Englischen von Wulf Teichmann


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 01.07.25

Erinnert sich noch jemand an die Begeisterung in den 60er Jahren, als mit dem Strukturalismus ein ganz neues Denken sich ausbreitete, das in den Strukturen der Sprache, des Sprechens, des Zusammenlebens, der Kommunikation den eigentlichen Sinn suchte, in der Synchronie, im Gleichzeitigen, und die Diachronie, das Geschichtliche, beiseite schob und damit auch das Politische (weshalb die Marxisten vom Strukturalismus auch nichts wissen wollten)?

Ich begegnete dem Strukturalismus erstmals in Claude Lévi-Strauss‘ „Traurigen Tropen“, in denen er die Verwandtschaftsverhältnisse sog. „kalter“ Völker, z.B. der Aborigines Australiens, untersuchte und eine Komplexität von Matri- und Patrilinearität, von Heiratsregeln und Totems feststellte, die an höhere Mathematik grenzte. Hieran fühlte ich mich erinnert, als ich jetzt Thomas Pynchons „Die Versteigerung von No. 49“ wiederlas, das ich bei meiner ersten Lektüre in den 70er Jahren nur als wirr und absurd wahrgenommen hatte. Warum sollte ich mich für eine Verschwörung namens Tristero interessieren, die sich seit dem 17. Jahrhundert gegen das Postmonopol derer von Thurn und Taxis richtete und die angeblich auf die USA übergegriffen hatte, so dass die Heldin des Buches, Oedipa Maas, noch heute an Toilettenwänden und Briefkästen auf das gestopfte Posthorn, Symbol dieser Bewegung, stößt, die sich W.A.S.T.E. nennt?

Jetzt aber lese ich, wie im Kopf Oedipas zweierlei mit einander verschmilzt: Die Erinnerung an den Schaltplan eines Transistorradios und der Anblick der (fiktiven) Stadt San Narciso in Südkalifornien: „Von ihrem erhöhten Beobachtungspunkt aus sprang ihr jetzt dieser wohlgeordnete, von Straßen durchzogene Häuserhaufen mit derselben und unerwarteten  und erstaunlichen Klarheit in die Augen wie damals der Schaltplan … In beiden Fällen war in den Mustern, die nach außen hin sichtbar wurden, ein hieroglyphisch verschlüsselter, aber unzweifelhaft vorhandener Sinn zu erkennen, eine fest Entschlossenheit zur Kommunikation … Und so kam es, dass sie gleich in ihrer ersten Minute in San Narciso wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Erkenntnis traf.“ Pynchon benennt dies als „religiösen Augenblick“, später spricht er von einer „Hierophanie“ – und genau das empfand ich auch als ich Claude Lévy-Strauss las: Der Sinn liegt nicht in den Dingen, den Ideen, den Inhalten, sondern ausschließlich in ihren Zusammenhängen, in ihrer totalen Interdependenz.

Pynchons Roman verdanke ich außerdem die Bekanntschaft mit einer Malerin, die ich für beunruhigend halte, obgleich ich noch nie ein Original von ihr gesehen habe. Ihre surrealistischen Bilder ziehen mich in Bann – ganz anders als die Bilder Dalis, denen das Effekthascherische immer an die Stirn geschrieben steht. Die Gemälde dieser Künstlerin – ich betone, dass es sich um eine Frau handelt -  hängen in vielen mexikanische Museen (wenn es da viele gibt), und auf eines stößt die Heldin von Pynchons Buch, Oedipa Maas, in Begleitung ihres Liebhabers Pierce Inverarity, und Pynchon beschreibt das so: „In Mexiko City gerieten sie irgendwie in eine Ausstellung von Gemälden des schönen Exilspaniers (korrekt, sehr geehrter Herr Teichmann, wäre gewesen: der schönen Exilspanierin) Remedios Varo: Auf dem Mittelstück eines Triptychons mit dem Titel Bordando el Manto Terrestre  (Den Mantel der Erde stickend) sah man eine Anzahl zerbrechlicher Mädchen mit herzförmigen Gesichtern, riesigen Augen, Haaren aus gesponnenem Gold, die im obersten Raum eines runden Turms offenbar gefangen gehalten wurden, wo sie an einer Art Tapisserie stickten, die sich breiten Bändern durch die schlitzschmalen Fenster in eine Leere ergoss, die so ungeheuerlich war, dass jeder Versuch, sie zu füllen, hoffnungslos scheitern musste; denn alle anderen Bauwerke und Geschöpfe, alle Wellen und Schiffe und Wälder der Welt waren in dieser Tapisserie enthalten, und umgekehrt, die Tapisserie war die Welt. Oedipa hatte in perversem Staunen vor dem Bild gestanden und geweint.“ 

Und eine Tapisserie dieser Art macht sich nun Pynchon daran, nicht zu sticken, sondern schriftlich zusammen zu weben, indem er seine Heldin Oedipa Maas in Kalifornien auf die Reise schickt, weil sie von ihrem verstorbenen Liebhaber zur Testamentsvollstreckerin ernannt wurde. Doch ihr Auftrag wird ihr, je länger der Roman voranschreitet, immer gleichgültiger, durch die fiktive Rachetragödie The Courier’s Tragedy von dem ebenfalls fiktiven Richard Wharfinger kommt sie auf die Spur von Tristero, dem Rätselhaften, der dem Post- und Kommunikationsmonopol von Thurn und Taxis und schließlich auch dem us-amerikanischen Postsystem ein Netzwerk entgegenstellt, dessen Symbol, das gestopfte Posthorn, Oedipa auf Toiletten und an Briefkästen antrifft, dem Symbol des Netzwerks W.A.S.T.E.: We Await Silent Tristero’s Empire. „Dein Reich komme“ klingt da an. 

Der Schaltplan des Transistorradios, die ihm verwandte Stadtstruktur, der Mantel der Erde – lauter Symbole einer inhalts- und dogmenfreien Religiosität des bloßen Zusammenhangs, der Leere. Gegen Ende erscheint es Oedipa immer noch am erträglichsten, „geisteskrank zu sein und Schluss. An diesem Abend saß sie stundenlang da, sogar zum Trinken zu benommen, und übte sich darin, in einem Vakuum zu atmen. Denn dies, o Gott, dies war die Leere. Es gab keinen, der ihr helfen konnte. Keinen Menschen auf der Welt. Die waren alle auf irgendeinem anderen Trip, wahnsinnig, feindselig oder tot.“ Ein in seiner Konsequenz furchtbares Buch über Amerika - bei dessen Lektüre man auf die Unterstützung von  Thomas Pynchon Wiki | The Crying of Lot 49 nicht verzichten sollte.
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