keinEinhorn
keinEskapismus, keinRosa, keineLiebe.
Die Kolumne des Teams " keinEinhorn"
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Die Lesebrille
von Owald
Daß man älter wird, weiß man ja im Prinzip schon vorher. Es sei ein schleichender Prozeß, so lernt man früh, und findet dies später grundsätzlich auch bestätigt: Die Lachfalten bleiben allmählich auch bei neutralem Gesichtsausdruck da, die lustige Augenrunzel ist nicht mehr nur bei Licht von der Seite zu erkennen, und das hartnäckige Kniegeräusch beim Treppensteigen wird mehr und mehr vom eigenen Keuchen übertönt.
Früher oder später jedoch kommen unweigerlich Ereignisse hinzu, die uns das Gefühl geben, von einem Tag auf den anderen signifikant gealtert zu sein. Bei vielen sind dies die sogenannten „runden“ Geburtstage, bei anderen vielleicht das Ende der Synchronschwimmerkarriere oder der Eintritt ins gehobene Management.
Bei mir war es am vergangenen Samstag soweit: Ich habe mir eine Lesebrille gekauft.
Diese Anschaffung erwies sich zunächst als voller Erfolg. Ich kann nun wieder ausgehängte Busfahrpläne, ausgedruckte Excel-Maschinenbelegungstabellen (im Beruf sehr nützlich) und kleingedruckte Zutatenlisten auf Lebensmittelverpackungen lesen, ohne die Augen bis zur Unkenntlichkeit zusammenzukneifen. Dies erspart mir nicht nur die vermehrte Bildung von Augenfältchen, sondern auch peinliche Begegnungen wie die vor etwa drei Wochen bei Aldi, als mich eine freundliche Seniorin fragte, warum ich denn die Gulaschsuppendose so böse anstarre.
Meine Freude endete jäh, als ich erstmals mein Spiegelbild mit Lesebrille sah. Hatte ich bisher Geheimratsecken, graue Schläfen und Augenrunzeln als liebenswerte hinzugewonnene Features meines im Grunde noch restjugendlichen Gesichts interpretiert, war die Lesebrille genau das Accessoire, das mein Gesicht mit einem Mal in das eines älteren Mannes verwandelte. Wie jene Männer, denen die Brille diesen leuchtenden Ausdruck der Pseudo-Intellektualität verleiht. Was aber eher daran liegt, daß sie, wenn sie einen anblicken, die Augenbrauen nach Kräften hochziehen, was zwar einen intensiven Blickkontakt suggeriert, in Wirklichkeit jedoch einfach der angestrengte Versuch ist, mit beiden Augen über den Brillenrand hinweg zu sehen.
Nebenbei habe ich mich immer wieder dabei ertappt, die Brille – ich übe ja noch – scheinbar wahllos auf- und abzusetzen. Viele ältere Männer, die ich beobachte (das Beobachten geht noch ganz gut: Ich bin ja weitsichtig), machen das auch so. Sie wirken dabei mindestens so unsicher, wie ich mich dabei fühle. Eigentlich wirken sie vor allem verwirrt und zerstreut.
Und ich? Bin vor allem im Zwiespalt. Ich möchte natürlich gerne klar sehen können, aber doch bitte kein verwirrt wirkender älterer Mann sein. Und was bedeutet das nun für mein Verhältnis zu meiner Lesebrille? Ich brauche wohl noch etwas Zeit, um das herauszufinden.
Zum Glück habe ich sie bereits verlegt.