Morphy erstmals in Paris
Kurzgeschichte zum Thema Geister
von Gabrielus
Es war ein wundervoller Sommerabend in New Orleans. Paul Charles Morphy hatte die Eintrittskarte von seinem Onkel Ernest bekommen, der auch bei dem Konzert dabei war. Es gab gleich zwei Anlässe für das Geschenk des Onlels. Erstens hatte Paul Geburtstag. Seinen zwanzigsten Geburtstag. Zweitens hatte er kürzlich sein Juraexamen an der University of Louisiana bestanden. Dies waren genügend Gründe für den Onkel, Paul für die Aufführung eine Eintrittskarte zu schenken. Bei der Veranstaltung traten mehrere junge Opernsängerinnen und Opernsänger auf, die zunächst vorgestellt wurden und dann jeweils eine oder zwei Arien sangen.
Dann kam sie auf die Bühne. Paul war sofort von ihrer Schönheit und Ausstrahlung fasziniert. Sie hatte lange schwarze Haare, war mittelgroß und sehr schlank. Sie wurde vom Moderator des Opernabends vorgestellt. Ihr Name war Marie, sie kam aus New Orleans und war achtundzwanzig Jahre alt. Sie hatte bereits ein Engagement für eine Tournee in Europa, die sie in Kürze antreten würde. Sie konnte in den Stimmlagen Sopran und Mezzosopran singen.
Dann sang sie. Erst «Casta Diva» aus Bellinis «Norma», dann «Una voce poco fa» aus Rossinis «Il barbiere di Siviglia». In beiden Stimmlagen hatte sie eine kraftvolle und weiche Stimme. Maries Stimme übertraf sogar ihre Schönheit. Paul war überwältigt.
Am Ende der Vorstellung kam Marie ins Foyer.
«Ich bin sowohl von Ihrer Schönheit wie auch von Ihrem Gesang fasziniert!», traute sich Paul zu sagen.
Sie sah ihn neugierig an.
«Danke. Du darfst mich Marie nennen.»
Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und er deutete einen Handkuss an.
«Und wer bist du?», fragte sie freundlich.
«Ich bin Paul, Paul Morphy.»
«Bist du mit deinem Vater hier?», fragte sie mit Blick auf Onkel Ernest, der ein paar Schritte näher kam.
«Oh, nein, das ist mein Onkel. Mein Vater ist letztes Jahr gestorben.»
«Das tut mir sehr leid.», sagte sie traurig.
Sie sahen sich eine Weile schweigend an.
«Bekomme ich ein Autogramm?», fragte Paul und deutete auf seine Eintrittskarte.
Sie nahm ihm die Eintrittskarte aus der Hand und sah ihn fragend an.
«Was soll ich schreiben? Erzähl mir etwas von dir.»
«Schreib doch bitte „Ich wünsche dir viel Erfolg beim Ersten Amerikanischen Schachkongress“.»
Sie schrieb den gewünschten Text auf, unterschrieb und gab ihm die Eintrittskarte zurück.
«Du bist also Schachspieler?»
«Ja, auch, aber eigentlich bin ich Rechtsanwalt.»
Sie sah ihn ungläubig an.
«Bist du nicht zu jung dafür?»
«Ja, richtig, das ist ja auch mein Problem. Heute ist mein zwanzigster Geburtstag. Ich bin also noch nicht volljährig und darf somit auch noch nicht als Anwalt tätig sein.»
Sie sah ihn fast liebevoll an und gratulierte ihm.
«Ich mag dich trotzdem! Wir sehen uns bestimmt wieder. Dann erstmal viel Erfolg beim Schachkongress.», sagte sie und ging weiter.
Plötzlich war Paul nicht mehr im Foyer des Theaters. Er war in einem Café. Es wurde Schach gespielt. Was war geschehen? Er wurde von einem etwa sechzigjährigen Mann angesprochen.
«Du bist im Café de la Régence in Paris. Ich habe dich hergeholt.»
Paul sah den Mann an und machte dabei keinen besonders intelligenten Eindruck.
«Ich habe dich hergeholt, weil ich wissen möchte, ob du wirklich so gut Schach spielen kannst, wie erzählt wird. Im Übrigen bin ich Philippe, ein Geist, kann das Café zwar nicht verlassen, habe aber die Macht, Menschen hierher zu bringen. Auch kann ich sie zurückbringen.»
«Ein Geist?», fragte Paul und sah sein gegenüber ungläubig an.
«Das kann ich dir beweisen.», sagte Philippe und ging durch eine geschlossene Tür heraus und wieder herein. «Glaubst du mir jetzt?»
Paul nickte und glaubte zu träumen.
«Kanst du mich zurückbringen?», fragte er nach einer Weile.
«Sicher. Aber erst musst du einen Test bestehen. Du sollst zwei Partien gleichzeitig spielen. Wenn du beide gewinnst, bringe ich dich zurück. Und noch etwas. Du spielst in beiden Partien jeweils ohne einen deiner Türme.»
«Was ist mit der Rochade?»
«Die kannst du dann nur zu einer Seite machen!», sagte Philippe lachend.
Der Geist zeigte Paul die beiden Gegner. Diese stellten sich vor. Der eine war ein Polizist namens Jacques. Der andere stellte sich als Karl von Braunschweig vor.
Morphy gewann beide Partien, was sich ohne jeweils einen Turm schwierig gestaltete. Zudem waren beide Gegner keine Anfänger. Sie gratulierten ihm zum Sieg. Karl von Braunschweig lud Morphy in seine Loge im Theater ein, als Zeichen seiner Anerkennung.
«Ob du gewinnst, war mir eigentlich egal. Ich wollte dich kennenlernen. Selbstverständlich bringe ich dich zurück. Hätte ich auch getan, wenn du nicht gewonnen hättest. Vor zehn Jahren wurde ich hier ermordet. Du wirst wieder nach Paris kommen. Diesmal freiwillig. Dann werde ich dich bitten, meinen Mörder zu finden.»
Paul gefiel die Atmosphäre des Café de la Régence und hatte kurz darüber nachgedacht, noch zu bleiben. Doch der Wunsch, Marie wiederzusehen, war größer.
Der junge Mann war wieder in New Orleans im Foyer des Theaters. Philippe hatte ihn zurückgebracht. Es waren noch einige Menschen im Foyer, doch Marie war nicht darunter. Sein Onkel auch nicht.
Paul war traurig. Marie war nicht mehr da, vielleicht schon auf dem Weg nach Europa. Dass er noch nicht als Anwalt tätig werden konnte, machte ihn auch traurig.
Er blickte auf die Eintrittskarte mit dem Autogramm von Marie. Er las den Text und fasste einen Entschluss. Erst wollte er nach New York zum Ersten Amerikanischen Schachkongress. Anschließend wollte er nach Europa um Schach zu spielen und nach Marie zu suchen. Bei diesen Gedanken war er nicht mehr Traurig und blickte optimistisch in die Zukunft.
Anmerkung von Gabrielus:
Die Geschichte spielt zeitlich vor Morphy und die Opernpartie. Paul Charles Morphy, die Hauptperson, hat tatsächlich gelebt und war in den Jahren 1858 bis 1861 der weltbeste Schachspieler. Ansonsten ist die Kurzgeschichte rein fiktiv. Auch der Geist ist fiktiv.