Ein Raum für Sonntag, Madamm.

Gedanke

von  Elén

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Mit knirschenden Zähnen, mit kalten Händen, Madamm, nicht um meinetwillen, setze ich mich in ein literarisches Zimmer, rücke mir Licht zurecht und hebe zum Wort an, - wo mir Schweigen seit geraumer Zeit so behaglich geworden ist. So habe ich aufgehört meine Welt zu verdächtigen, so haben ich das Fieber und die Vokalwut überwunden und, so kann ich sagen, die Sehnsucht nach dieser anderen Welt, jener ein Schreibender doch stets verfallen ist, so will ich Ihnen sagen: ich habe sie überwunden.

Kurz:

Über Nacht hat mich Kälte beschlagen, ich bin mir bewusst geworden. Pépinot hat mich eingeladen nach Lyon zu reisen. Als ich den Brief aus dem Postkasten nahm, war es früher Morgen; ich stand am Fenster, sah der aufgehenden Sonne zu, sah dieser Sonne zu da sie sich ausspeit in den wohltuenden Verfall der Landschaft. Es ist Herbst, Nebelschwaden fingern über Tücher aus Moder und Emission: ich kann nicht reisen. Pépinot, würde ich sagen wollen, wohin soll ich reisen. Ich war in Prag, ich war in Rom, in Frankfurt, in Melbourne, Moskau, Bukarest, Mailand, in sämtlichen Städten, die einzeln und zusammen keinen Eindruck machen. Nichts. Ich bin nicht imstande einen Koffer zu packen, ich bin nicht imstande auf einen Flughafen zu gehen, mich dort durch ein Übermaß geschäftiger Menschen zu wühlen, geschweige denn, in einem fremden Land auch nur eine Silbe über die Lippen zu bringen. Was würde ich dort finden, was ich nicht zuhause fände? - Dieses Teufelsgeräusch einer Stadt, dieser Höllenlärm, der den Menschen innewohnt, stinkende Restaurants, eine verlogene Presse, eine noch verlogenere Politik, eine hochstilisierte, frisierte Kultur, die im Grunde doch nur ein entartetes Eck Moderne ist; verlogene Schriftsteller, Kapitalisten, Feministen, Juristen, Christen, Faschisten, Positivisten, die allesamt durcheinander schreien, ihre stumpfsinnigen Wahrheiten kredenzen, lärmend und polternd, und behaupten, sie wären der Weisheit letzter Schluss. Ich habe diese Art des Lebens verlernt, ich bin ungelenk und auch zu müde geworden für eine Reise, zu müde auch für die Wahrheit; ich habe das Fenster aufgerissen an diesem Morgen, Pépinots Brief in der Hand, an diesem Morgen, der in meiner Stadt wie in jeder Stadt pünktlich und zornig zu rumoren beginnt, gleich einem ausgehungerten, gärender Bauch mit Orangenhaut über den Horizont schwappend, um tagsüber, bei mitgerissenem Licht und Tobsucht den Menschen ihren letzten Rest Verstand aus den Hirnen zu fressen. –

Madamm,

ich habe begriffen, dass ich nicht über meine Geschichte, über die Gefühle, die überzüchtete Schuld meines Landes hinwegkomme. Dass ich nicht hinwegkomme über ein Land, das den Katholizismus nicht hinter sich zu lassen vermag; unüberwindbar diese Landschaft, die verseucht ist von Goethes und Schillers Geist mit der dummen, unnützen Schwermut, verseucht von Kant, Hegel, Schopenhauer etc., diesen erklärten Staatsbeamten mit ihren lebensverneinenden, zerhackstückelnden Thesen; schuldig gesprochen von den Christen, verdammt vom Gespenst der Nationalsozialisten; ein Land in dem der Himmel nach links hängt und ein Land in dem man sich prophylaktisch distanziert, in dem einer schon mit dem ersten Lebenstag Götzenanbetung, Blindheit und Langeweile lernt; dass ich nicht hinwegkomme über das Bestreben und diese anerzogene Sucht zur Ideologie, nicht hinweg, über den ewigen Hang zum fetten guten Gewissen, diese Moral, die hierzulande aus tausend humanistischen Mistkübeln stinkt und einem keinen Frieden lässt. - Wer wird der erste sein können, der sich das Recht nimmt im Namen der gekreuzigten Wahrheit und im Namen der Menschlichkeit für seine Zeit zu lügen?

Dabei.

Dabei möchte einer beim bescheidenen Leben doch nur an einem undatierten Morgen oder an einem Abend bei Dämmerung und niedergehendem Winter aus dem Fenster sehen und innehalten. Ein paar bunter Büschel Laubwald in die Augen nehmen, ein paar schmale Streifen aus unmittelbaren Nebeln herausschneiden um in dieser brachen, fortgeschrittenen Natur einen Winkel zu finden, der noch nicht an Lärmsucht und an Geschichte krankt, einen Winkel zum Nachdenken und zur persönlichen Wiederherstellung. Wem es noch gelingt zu hoffen und wer noch die Kraft zur Suggestion besitzt, Madamm, und wer in dieser Welt noch den Mut zu einem Denkansatz aufbringen mag, der möge schreiben, der möge anschreiben gegen den Verfall einer Welt, der möge anschreiben gegen die Wahrheit, der möge die Moral zum Teufel schicken und sich hoch halten zu träumen; für ein Recht: nichts zu wissen, für ein Recht niemandem zu glauben, für ein Recht zu ahnen, zu sehen um zu erzählen.

Pépinot, sage ich, - nicht bin ich imstande eine Reise zu begehen, was für eine entsetzliche Vorstellung über dieser Furchtbarkeit einer unwirschen, stoßenden, tretenden, brüllenden Reisegesellschaft; aber mit Freude werde ich meine Phantasie anregen, mit meiner ganzen Fröhlichkeit durch Lyon streifen, ein Haus ausfindig machen um einen Freund zu besuchen. –


Die Zeit ist aufgegangen;
Von Haus zu Haus -

Wer wagt aufzuschreiben:
Wie man Sehen erträgt?

Madamm, ich schließe meine Fenster, ich ziehe den bemessenen Umriss Gardinen vors Licht;  - so verlasse ich für lange Zeit wieder mein literarisches Zimmer, so beende ich mein Reden, schlage mich über meiner Gestalt Gleichmut und Schweigen zusammen und rücke zurück in unberedete Tage, die mir doch so vertraut und lebbar geworden sind;

Ich grüsse Sie!


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Kommentare zu diesem Text

NilaVero (23)
(21.10.07)
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 beneelim (21.10.07)
ich weiß nicht, wie es geht, ein thema, einen andauernden affekt, immer aufs neue in derartige lichter zu tauchen, dass sich an den worten stets eine neue form schleift...
chantiare (22)
(22.10.07)
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octave (24)
(22.10.07)
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 Elén meinte dazu am 22.10.07:
Dank fürs lesen u. kommentieren.

__ zu Deiner Kritik an der Generalisierung : jein. Würde es eine wissenschaftliche Abhandlung (..) betreffen, ist/wäre diese Kritik uneingeschränkt berechtigt (viell. ist sie ohnedies berechtigt, wurscht :). Es handelt sich jedoch nur um ein Prosateil in dem ich mir zugestehe die Aussage um Goethe, Schiller und den Katholizismus als Metapher für Traditionsblindheit und somit Hemmschuh für jede weitere kritische Auseinandersetzung der Gegenwart, zu verwenden. Natürlich war Kant ein Wegbereiter und auch Goethe hat seinen Teil zu seiner Zeit und darüber hinaus wie du sagst beigetragen etc. _ eben: Ich erlaube mir an der Stelle einfach und ganz rücksichtslos u. ohne jegliche Erläuterung Subjektivität. _ Ich nehme Deine Kritik auf jeden fall gern mit. Danke.

lg
(Antwort korrigiert am 22.10.2007)
octave (24) antwortete darauf am 22.10.07:
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entblättert (25) schrieb daraufhin am 23.10.07:
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jovanjovanovic (61) äußerte darauf am 23.10.07:
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entblättert (25) ergänzte dazu am 24.10.07:
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jovanjovanovic (61) meinte dazu am 25.10.07:
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entblättert (25) meinte dazu am 01.11.07:
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The_black_Death (31)
(04.11.07)
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 Reliwette (09.01.08)
Ich muss mich mit diesem Text identifizieren - vielleicht liegt es an meinem Alter, an meiner Biografie, an meinen Genen.
Ein Vorkommentator/In schreibt etwas über Schopenhauer/Nietzsche im Sinne von "Weitergeben - darauf Aufbauen". Wer sich mit Hegel (Thesen und Antithesen), Kant, Schopenhauer und Nietzsche befasst, sollte auch Marcuse und Satre hören. Aber selbst, wer aus diesen Erklärungs--und Denkmodellen nichts für sich entnehmen kann, dem bleibt noch der eigene Kopf, und den nehme ich bei Elèn ganz deutlich wahr. Ich bin beeindruckt!
Der alte Kunstmeister (Hartmut)
octave (24)
(18.03.08)
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