Sonntag // Ich habe mir ein Telefon angeschafft, damit ich meine Mutter fragen kann, ob ich zurückkehren darf. Doch ich starre nur seit Tagen unbeweglich darauf, während sich eine Staubschicht über alles legt. Draußen fahren Autos und Menschen vorüber, kreuzen mein Leben und wissen nichts davon, auch ich weiß kaum etwas, nur ein wenig, weil ich damit beginne Nummernschilder mit Gesichtern zu verbinden. Und irgendwann führe ich Buch darüber, wer wann und wie mein Leben kreuzt, damit ich nachts wieder schlafen kann. Es wird ein rotes Buch sein, mit einem Adler darauf.
Montag // In den Morgensstunden habe ich Seltsames geträumt - ich saß im Wald, in Dunkelheit, und ich grub Leichenteile aus, zusammen mit J., die neben mir saß und mich beobachtete. Ich grub blaue, starre und eisige Arme aus, Füße, Köpfe, alle nicht verwesen und angenagt, sondern eingefroren, kaltgelegt, für später aufgehoben. Und ich grub und grub und grub dann ein Kleid aus, dass ich in einer Theateraufführung in der Grundschule trug. Es hob sich farblich seltsam vom grauen Waldboden und von den blauen Leichenteilen ab, denn es war rot und rosa und es roch nach Kind, nach weicher Haut, nach Kakao. Ich machte den Versuch es über meinen Kopf zu stülpen, ich wollte es tatsächlich anziehen, obwohl es viel zu klein war, es rutschte über mein Gesicht und ich bemerkte, dass es mir die Luft abschnürte - ich wollte J. zurufen, dass sie mir helfen sollte, doch es kam nichts aus mir und sie saß nur summend da und guckte mir zu. Ich starb und fiel in das Loch im Boden. Ich hatte mein eigenes Grab geschaufelt. Dann wachte ich auf.
Dienstag // Es kam jemand zu Besuch, klingelte einmal, klingelte zweimal, dreimal, beim vierten Mal öffnete ich die Tür und ich habe nicht gesagt, dass ich seit Sonntag im Bett liege, es gibt so viele Dinge, die man nicht sagen kann, die Menschen sind durchzogen davon -
E. sitzt da und spricht vom Wochenende, von Parties, von alternativen Kinos und von Studentenkram. Ich nicke und flüstere "Vielleicht", vielleicht. "Unbedingt!", sagt er. "Vorallem am Samstag" und sowas. Ich rauche meine Zigaretten (,ich hatte vergessen, dass ich rauche, nun fällt es mir wieder ein), asche in einen bemusterten Teller ab, starre den schwarz/weißen Fußboden an, der sich zu einer grauen, flüssigen Masse verwischt und E. versinken lässt. Sein aufmunterndes Grinsen verwischt, dann knarscht mein Stuhl und ich komme zurück. "Also am Samstag" sagt er und ich flüstere "Vielleicht" und ich weiß, dass er nicht mehr an Liebe denkt.
Die Tür fällt zu und ich vernichte alle Spuren von meinem Gesicht.
Mittwoch // Ein Brief: Liebe Mama. Ich habe nun erkannt, warum du immer anderen Menschen die Schuld für alles gibst: Es ist viel einfacher, man kann so überleben, ich verstehe dich jetzt. Es ist dein reiner Lebenserhaltungsdrang. Zwar bin ich geneigter das Sterben zu wählen, jedoch könnte das auch Schwäche sein. Eine Zerrissene.
Mittwoch, nachts // Ich habe ein Bild gemalt, von meinem Spiegelbild, herbstrote Augen, vertrocknete Lider, sprödes Haar. Aus mir strömt die Welt in Tränen heraus. Mein Bruder hat damals erzählt, dass so Flüsse entstehen. Er hatte ein Lied darüber geschrieben und es mir vorgespielt. Es war Sommer.
Vor ein paar Wochen habe ich H. gesehen. Er kam aus dem Bahnhof, mit F., ein Freund von ihm, den er schon damals kannte, er hat gelacht und ist an mir vorüber gelaufen ohne mich zu sehen. Er hat gelacht. Ich saß auf dem Boden und flocht Gras, flocht und flocht und flocht dann Tränen mit ein.
Donnerstag // Augen schließen, zurück in Gedanken. Dann stehen da Menschen, die sich lächelnd gegenseitig streicheln, befriedigen, ohne Fiktion, ohne Mühe, unter ihnen E. und J. und H. (, doch meine Mutter nicht) und dann stöhnen sie leise in Verlangen und Liebe und mir wird kotzübel davon und die Tränen sprießen aus mir wie Unkraut, obwohl Winter ist. Und keine Hand fährt über mich, weil ich aus Staub bestehe und an einer Berührung zerbrechen würde.
nachts // Das Telefon klingelt. Es ist H. und er ruft aus dem Krankenhaus an. Ich renne ohne Gedanken, bis das Gebäude vor mir aufragt und zum stürzen aufruft. Kaffeeautomaten und leere Gesichter. Weiß. Und blutnasse Tücher neben Federdecken. Plastikhandschuhe mit Metallgeräten, ich sehe durchs Fenster, H. hält meine Hand, das rosarote Kleid in der anderen. Sie haben eine Kugel gefunden, in meiner Vorstellung ist es eine Glasmurmel, Gemurmel aus dem OP-Raum. Stille. Die Linie läuft nun gerade. Sie läuft noch, aber ohne Leidenschaft, ohne Menschlichkeit. Ich sehe, wie ihr Haar zusammenfällt, abstumpft, die Seele fliegt nun über das Haus hinaus und darf verzeihen, der Körper stürzt an Lebenslast vor meinen Augen in Abgründe. In der Ecke steht der Tod und lächelt. H. weint. Ich summe. Menschen kreuzen unsere Wege.
Montag // H. tritt mit gesenktem Kopf einen Schritt nach link, ich gehe nahe an sie heran und lasse den Brief hinab segeln. Kein Geräusch. Mir schwankt, Erde sieht seltsam aus, Blumen können völlig falsch riechen, falscher als Menschen. Ich dürfe nach hause zurück, sagt sie noch, während mechanisch Erde über sie fällt (,ich habe keine Erinnerung daran, wie das geschieht, ich weiß nur, wie das glänzende Holz das Licht reflektierte). Ich schüttle den Kopf und schlucke meinen Staub, obwohl Winter ist. Man hat mir immer gesagt, man darf nicht rückwärts gehen.