Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Postkarten Anachronismen sind

Bild zum Thema Leben

von  Secretgardener

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„Herr Päwesin aus 57c hat eine Affäre mit dem Pudel von Frau Malni aus B. Ihre Balkons liegen direkt nebeneinander, eine günstige Gelegenheit für ihn“.
Melinda dachte sich Geschichten über Ihre Nachbarn aus, wenn Sie aus dem Fenster schaute, während Sie Origami machte ohne hinzuschauen – Sie mochte Papier. Für Sie war Blind-Origami, wie Sie es nannte, psychologisches Bleigießen. Sie versuchte die Figuren zu deuten die Sie erschuf, schließlich musste Ihr Unterbewusstsein damit etwas gemeint haben. Melinda hatte bereits 3 Kartons vollgeformt.
Diesmal sah es nach einem Dreirad aus. Sie besaß nie eines, sollte gleich richtig Fahrrad fahren lernen. „Da hat das Kind doch viel mehr von“, wie Ihr Vater immer sagte, „außerdem ist Sie doch schon viel zu groß für ein Dreirad“.
Sie saß am Küchentisch und betrachtete es von allen Seiten. Küchentisch ist eigentlich zuviel gesagt. Es war einer dieser hochklappbaren Tische, die man unter dem Fenster anschraubt, damit man dann auf seinem Stuhl sitzen kann, aus dem Fenster schauen und dabei einen Fertigpudding essen. Sie hatte sich einen dieser Plastikstühle gekauft, den man sonst für den Garten nimmt; die man so schön stapeln kann, wenn man nur genug davon hat. Sie dachte sich, daß es sich in dem Stuhl mehr nach Natur anfühlte.
Melinda stand auf, und legte das vermutliche Dreirad in den Karton auf dem Kühlschrank. Auf der Kühlschranktür und den Seitenwänden klebten Postkarten von Städten, Orten und Ländern auf der ganzen Welt. Wenn Sie an einem Postkartenständer vorbeiging, holte Sie sich eine Landschaftspostkarte, die der Stimmung entsprach, in der Sie sich gerade befand. Sie nahm sich eine Karte, die eine untergehende Sonne über Wüstendünen zeigte; Nordafrika, Marokko vielleicht, in intensiven Rottönen. Melinda stand eine Weile vor Ihrem roten Boschkühlschrank, den Sie noch aus WG-Zeiten hatte und hielt diese Postkarte in Ihren Händen – so fremd und doch vertraut. Das Geräusch von festklebenden Füßen auf Linoleum schlich Ihr ungemerkt hinterher als Sie sich wieder an Ihren Klapptisch setzte und am überzuckerten Cappuccino schlürfte.
„Graz oder Linz“, daran dachte Sie immer, wenn Sie aus dem Fenster schaute. „Es sieht aus wie Graz, oder eben Linz“. Sie suchte Ähnlichkeiten, doch fand keine. Manchmal fiel Ihr nicht gleich ein, wie der Ort hieß, an dem Sie schon viel zu lange wohnte. Schon gar nicht, wenn Sie in Gedanken an einem anderen Ort wohnte. „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Postkarten Anachronismen sind. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der es für so etwas ein extra Wort gibt“. Graz oder Linz, das war Melindas Eselsbrücke, Ihr Ort endete mit einem z.
57f, das fiel Ihr immer sofort ein; Sie wohnte in 57f. Sie fand, daß sich das schön anhörte, doch wurde Sie jedes Mal still, wenn Sie merkte, wie weit man zählen musste, bis man beim f war.
Draußen wurde ein Seat Kombi vorbildlich eingeparkt. Ein Mann stieg heraus und wurde von einem anderen begrüßt. „Müller und Sawatzki haben wieder ein Mädchen für den Mädchenhandel in Albanien gefunden“.
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Anmerkung von Secretgardener:

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Für Lizzy geschrieben.
Der Titel ist ein Arbeitstitel.

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Kommentare zu diesem Text

KeinB (29)
(21.07.08)
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shadowhunter (28) meinte dazu am 21.07.08:
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 Secretgardener antwortete darauf am 21.07.08:
Ob´s eine Origamianleitung gibt weiß ich nicht, zumal es ja ohne hinzuschauen ist und man es deuten muss.
Ich habe auch etwas überlegt, was die beiden am Ende nun machen, aber es hat schon den Effekt, den ich erzielen wollte - mich würden eher andere Sachen im/am Text stören.
Viele Grüße.
KeinB (29) schrieb daraufhin am 21.07.08:
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 Secretgardener äußerte darauf am 21.07.08:
Nein, das nicht, für MICH funktioniert das Ende...
Es hat an sich auch keinen gewollten "Effekt", würde auch nicht wirklich zum Text passen. Eigentlich soll man Texte ja nicht erklären...es sollte eher etwas sein wie sich-aus-den-Gedanken-reißen/sich-ablenken/an-etwas-anderes-denken, so in etwa...
shadowhunter (28) ergänzte dazu am 23.07.08:
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 Secretgardener meinte dazu am 23.07.08:
Der Schluß sollte auch kein richtiges Ende sein. Es war ja als Bild eines Menschen gemeint, und da ist das Bild eben zu Ende, Leinwand voll. ;)
"Hinten" sollte etwas kommen, das einen rausreißt, von daher finde ich es gut, aber auch nicht viel mehr...

 Unbegabt (21.07.08)
Wiedereinmal toll. :|
Der Schluss... hm ich weiß nicht, ich finde ihn gar nicht so schrecklich, denn er reißt den Leser aus diesem alltäglichem erzählten...

Nele

 Secretgardener meinte dazu am 21.07.08:
Freut mich wirklich, daß er Dir gefällt.
Ja, etwa so war das Ende gemeint von mir, ohne wirklichen Effekt, ohne Ziel.

Liebe Grüße.
mmazzurro (56)
(23.07.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 23.07.08:
Ja, Text-Titel sind mir meist ein Krampf, bei Photos fällt mir schon mal etwas Pseudo-Poetisches ein - ich überlegte auch es "Graz oder Linz" zu denken (Linz auch als Hommage an Paula Köhlmeier).
Die Figur könnte etwas hergeben, aber ich wollte es im Maramba-Stile bei diesen kurzen Bildern, oder vielleicht auch mal einer kleinen Geschichte, lassen.
Hab´ Dank für das Lob mit den Ideen, hier fand ich die so ok; vielen Dank auch für das generelle Lob.
Ja, eine wirkliche Idylle ist es nicht, und weil es eben "ohne Logik" ineinander übergeht, aufgezählt wird, ist es mehr ein Bild, keine Erzählung oder Geschichte.
Viele Grüße.
mmazzurro (56) meinte dazu am 24.07.08:
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 Secretgardener meinte dazu am 24.07.08:
Jojo, genau die.
thammü (22)
(20.10.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 20.10.08:
Danke.
Ja, ich mag sowas auch sehr. Das Bleigießen fiel mir spontan ein, das Ende gefällt mir ja auch; etwas Skurriles kommt immer gut.

Viele Grüße.
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