Eine letzte Ambivalenz.

Text

von  Elén

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Nun hat er sich aufgemacht. Nun hat er sich losgemacht. Nun hat er sich abgemacht, sich als Ganzes beschlossen, sich aufgeschlossen, sich erschlossen, entschlossen; er hat den Anfang endgültig gemacht, sich aufgebaut und fest erhoben; er hat sich angehört, sich bewusst gemacht, sich angepackt und am Kreuz überhoben. Dort greift er jetzt hin mit der ganzen Hand, die kalt ist vom Winter und reibt sich den Dorn unterm Hemd. Das ist spannend, sagt der Theatergeher und rückt sich zurecht -

Doch ist es noch zu früh für das große Gewitter. Der Alte weiß das und schiebt mit dem Schuh den Schnee von gestern und den Schnee von heute zu einem kleinen weißen Wulst zusammen um sich Ausdruck zu geben. Gerade Gefühle wären wünschenswert. Es ist noch zu früh; der Krieg ist seit langem erklärt, die Schlacht chronifiziert, das Wesentliche virulent und  was als solches keiner weiß, keiner ahnt und, lange oder kurz ist es hin, bis es in seiner ganzen Größe ausbrechen, einbrechen und stattfinden wird. Das ferne Regiment, das weder geortet sein, noch einen Namen haben wird, ist, wenn, auf jeden Fall vage geahnt, zur jähen Zeit nicht aussprechbar. Wir, die wir Zuschauer sind und etwas auf uns halten, vermögen kein Silbenkonglomerat zu finden für die größte Utopie der Natur, für das große Entsetzen, das -

Das der Eine im Schnee nun zum Schicksal, zu Vorsatz und Willen machen wird. Das ist ein Fall für die Statistik, sagen die Soziologen. Das ist menschlich, sagen die Humanisten, und die Nihilisten sagen das vielleicht auch. Die Gelehrten, die Wissenschaft, die Philosophen, die Zweifler, nicht zuletzt die Zuschauer haben sich längst und nützlich eine brauchbare Metapher zurechtgelegt. Sie alle greifen, die Augen abgeschirmt, mit der Rechten in die Tasche des Mantels und bedienen ihre Erklärungen und Zeugenschaften mit Bildern:

Lautlos fällt der Schatten gegen die Mauer und der Alte, der sich begriffen, aufgemacht, losgemacht, erschlossen und warm angezogen hat, er leitet sich aus. Nicht öffentlich. Er macht den Auftakt gegen sich. Nicht öffentlich. Er begreift sich innen wie außen, er hat sich durchgemacht und nun aufgehört sich zu bewegen. Der Schneefall geht über in Regen, graue Schnüre umgarnen die Stadt und er zieht den Hut in die Stirn -

Noch starrte er ins Dunkel, schon betrifft es ihn. Er ahnt den Luftzug, schon erfährt er ihn. Er schließt die Augen und ist überwältigt von der Ausgestaltung des Dunklen, das ihm in dieser Farbe noch nirgendwo mit der Eindrücklichkeit betroffen hat -

Der Alte schlägt den Kragen des Mantels nicht hoch. Regen füllt seinen Hals und es friert ihn. Er nimmt sich Zeit, tritt vom linken auf den rechten Fuß; er stellt sich Gott vor, so wie er seinen Gott sich immer vorgestellt hat in der Kirche oder bei Beerdigungen oder Weißderteufelwo, obwohl er in letzter Zeit müde und mürbe geworden ist für Gott. Er strengt sich an und stellt fest, dass er über der Rastlosigkeit und Geschäftigkeit seines Lebens, diesen Gott möglicherweise nicht hell genug ausgestaltet hat. Er hätte beizeiten sich einhalten sollen, die Waffe auszuformen, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit, der finsteren Medusa, die vollendet und scharf umrissen ist und, gegen das Denkbare seit Anbeginn resistent. Der Zeitpunkt findet jetzt statt, in dem die Natur ihr Ende findet, indem die Natur mit Logik nichts mehr zu tun hat und, nur sein einzig ihm gehöriges Gestern, seine einzig und allein ihm zugemutete Geschichte hat mit dem Heute und mit der angerissenen halben Stunde noch zu tun und der Alte hat alle Hände voll mit sich selbst zu tun, obwohl er wie betäubt im Regen steht und nichts tut. Er späht wie ein Nachtvogel ins Schwarze. Auf alle Fälle: ein Gott bedürfte jetzt heller zu sein und er betet mit gefalteten Händen. Obwohl er gleich besser daran getan hätte, sich ans Leben zu klammern, der Unglücksrabe -

Nun denn, sagt der Philosoph und nickt. Nun denn, sagt der Physiker und hebt die Gesetze auf. Nun denn, sagt der Jurist und legt den Hammer aufs Pult. Nun denn, sagen die Theatergeher und rücken unruhig im Stuhl. Nun denn, so der Architekt und der Bauherr, die ja wissen, dass, der letzte Stein aufs Haus gelegt, es hell im Gewitter aufgehen und mit dem Richtfest zusammenfallen wird. Nun denn, sicher, lautlos und gegebenenfalls etwas unsauber. Der Fall selbst ist mit diesem Augenblick irrelevant geworden, nur auf die Einzahl will noch diskret hingewiesen werden. Sagen wir Singularität und bemühen wir uns um den Terminus, um Abstand. Die Übersetzer sind trocken geworden im Mund und ziehen die Zunge über ihre rosigen Lippen -

Die Übersetzer sind still geworden und legen den Finger aufs Wort.
Die Übersetzer sind stutzig geworden und -

Der Regen schleudert kalt ins weiße Gesicht des knieweichen Alten. Er lauscht, horcht auf und flüstert: der Getreidehändler hat sich umgebracht.

Was für eine Unvernunft, sagen die Moralisten. Was für eine Schlagzeile, sagen die Journalisten. Was für eine Delikatesse, sagen die Theatergeher und seufzen den Staub von den Lustern. Was ein Schauspiel, sagen die Bürger; und, auch der Pfaff macht den Rücken zum leichten Buckel, schreibt das Grausen mit gespitzten Fingern  zum Drama, um seine Welt und Gemeinde wieder richtig zu stellen.

Still nun! -

Denkt der Mensch am Rand einer Nacht, horcht, schiebt mit seinem Schuh den zerlaufenen Schneewulst zur Seite. Lautlos fällt Schatten in die Seiten des Alten, der sich zu kühl angezogen, der sich begriffen, nun abrissen hat, um im Letzten sich gültig zu werden; mit schmetternder, mit der großen Faust der Verzweiflung zerschlägt er Chronik, Götter und Krieg und stürzt sich; stürzt zum aufgescheuchten Licht hin ins Gleis -



endet Beschau
verknotet in Regen
und Fetzen aus Mantel und Haut.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(14.09.08)
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Caty (71)
(14.09.08)
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LudwigJanssen (54) meinte dazu am 14.09.08:
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 Elén antwortete darauf am 14.09.08:
@Caty, fürs Lesen bedank ich mich trotzdem. So ist es halt mit der Sprache, mit Literatur, mit den Menschen überhaupt. Die einen verstehen nicht was und worüber die anderen reden und umgekehrt. Manchmal findet man Sprache oder Themen, die einen betreffen, manchmal macht Gerede, Geschreibe eben nur überdrüssig, weil sinnlos scheint, wofür der Sinn nicht geschärft oder die Kraft der Vorstellung nicht reicht. Wir sind und bleiben Sklaven des Unverständnisses. Wir sind uns näher, wir sind uns ferner. Meine letzte persönliche Sinnlosigkeit war die Verdi-Oper "La Traviata". Die Geschichte selbst ging mir noch, aber die Töne quälten mich. Jeder Ton tat mir weh in den Ohren, vor allem die Soprantöne und ich hab das fast nicht ausgehalten. Wie Kreissägen. Und ich hab mir bereits am Ende des ersten Akts gedacht: Verflucht, wann ist die Alte endlich tot. - Eine der meistgehörtesten und erfolgreichsten Opern. Dafür fehlt mir der Sinn und verstehen kann ich das auch nicht. - Meine Absicht war nicht Poesie, als mehr wieder einmal aus einer Angespanntheit, die mich schreiben verlangt, - der Versuch einer Annäherung. Mein Laster beim Schreiben: ich bin nicht zu motivieren verstanden zu werden. Ich schreibe stets soweit, soweit ich selbst verstehe, soweit mich die Sprache aushält und umgekehrt. Das ist gut, ein Kompromiss, sehr oft, und es passt für mich.

lg
argot (30) schrieb daraufhin am 01.10.08:
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LudwigJanssen (54) äußerte darauf am 01.10.08:
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argot (30) ergänzte dazu am 01.10.08:
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LudwigJanssen (54) meinte dazu am 01.10.08:
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argot (30) meinte dazu am 15.11.08:
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LudwigJanssen (54) meinte dazu am 16.11.08:
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argot (30) meinte dazu am 16.11.08:
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 Elén meinte dazu am 16.11.08:
Ich hab den Diskurs gern mitgelesen, bin jedoch ein wenig ratlos, wie ich mich konstruktiv einbringen könnte. Ich würde gern sagen: dies oder jenes ist meine Meinung dazu, diese oder jene Aussage will ich so nicht stehen lassen, dieses oder jenes Argument will ich dementieren, aufgrund dieser oder jener Überlegung/Überzeugung sehe ich das anders. etc. -

Ich habe es mir abgewöhnt, mir den Kopf zu zuerbrechen eine Weltformel zu finden für Kriterien guter Texte und Kriterien schlechter Texte, Legitimitäten, Stumpfsinnigkeiten und andere Schlauigkeiten. Ich habe keine Vorstellung davon was ein guter oder ein schlechter, ein starker oder ein schwacher Text ist und ich habe auch keine Idee, wo Kunst und Antikunst. -

Für mich ist jeder Versuch der Analyse ein persönlicher Akt und gibt am Ende mehr Auskunft über den Kritiker/Leser als über den Text. Gibt Auskunft über Wirklichkeitselemente, aus denen der Kopfinhalt eines Lesers besteht. - Wenn ich Brecht lese, lese ich in Brechts Welt der Wirklichkeiten, wenn ich Bernhard lese, lese ich in einer Bernhard'schen Welt und Wirklichkeit, die ich für den Zeitraum von 300 Seiten oder 600 Seiten versuche mit meinen in meinem Kopf und Erleben vorhandenen Wirklichkeiten zu vollziehen, nachzuvollziehen, nachzufühlen, zu kreuzen, mich Zeile für Zeile abzugleichen in den Dimensionen. Während Bernhard seine Welt im Stil der wahrgenommenen globalen Scheußlichkeit Seite für Seite aufschreibt und sich unermüdlich ekelt und sein Leben damit zubringt seine destruktiven, fehlgeleiteten Kognitionen aufzuschreiben, lese ich und weiß (für mich): das ist Bernhards Welt, Bernhards Zeit, Bernhards Erleben. Das ist viel und zugleich wenig und führen tut es am Ende nicht wirklich wohin. -

Der Leser hat die Möglichkeit der Perspektive. Das allein macht m.E. einen Text angreifbar (ausgenommen dem Grammatikalischen, etc.). Der Autor hat nur eine Perspektive/n, die die Summe der Teile seiner Welt sind. Und, allein dadurch, dass ein Text naturgemäß von mehr Menschen gelesen als geschrieben wird und, die Wirklichkeiten, die ihm gegenübergestellt werden mehr sind als der einen aufgeschriebeben Wirklichkeit die dem Autor entspringt, macht ihn angreifbar, den Text. Naturgemäß.

Aber, was soll man draus für einen Schluß ziehen? Worüber soll ich denn bloß reden, wenn ich am Ende doch nur über mich selbst auszusagen imstande bin und nicht über Dinge, zu denen ich etwas Schlaues zu sagen haben sollte; wo ich in allem wiederum nur Ausdruck meiner selbst werde, und alles Gesagte, Gedachte auf mich zurückführt ..

nun nja. Keine Ahnung. Aber,
gern mitgelesen hab ich -

Danke.
Caterina (46)
(14.09.08)
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 Elén meinte dazu am 14.09.08:
Herzlichen Dank Dir,

lg
Pjotr (29)
(14.09.08)
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 Elén meinte dazu am 14.09.08:
Ich glaub, das ist einer der schönsten Kommentare. - Hab Dank.

lg
neinneigung (33)
(14.09.08)
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 ManMan (14.09.08)
Ich gestehe, dass ich es auch nicht schaffe, mich so auf den Text einzulassen, das ich ihn wirklich verstehe, und das ist natürlich frustrierend und führt z.B. bei Caty zu Ausbrüchen, die sie kaum kontrollieren kann. Aber:ist das denn nicht vornehmste Aufgabe von Literatur, Texte zu schreiben, die den Lesern geheimnisvoll erscheinen, so sehr, dass der Alltag auch zum Geheimnis wird und das Geheimnis alltäglich?

 Elén meinte dazu am 14.09.08:
Interessanter Gedanke. - Ich glaube nicht, dass es die "vornehmste Aufgabe" des Literaten ist, der Sprache das Mythische einzuverleiben. Meine persönliche Meinung zur Aufgabe des Literaten, des Künstlers, des Menschen ist die stetige Ergründung und Entwicklung von Authentizität. Kafka ist kein Miller. Bachmann kein Kinski. Sartre keine Uta Danella. Nietzsche kein Bukowski. Wolf keine Mayröcker usw. - Sprache ist Mittel. Der Mysthiker neigt sich ins Dunkel und bedient das Wort in seinem Charakter, - er drückt sich aus und das Werk widerum drückt ihn aus und der Leser des Textes mit mysthischem Charakter interpretiert widerum den Text mit der Summer der Teiler seiner Welt und gibt dem Text des Mysthikers einen Charakter und Bilder, die sich unweigerlich unterscheiden vom Ursprungsbild. Ebenso ist es ;it dem Satiriker, er neigt sich dem Witz hin, der Ironie, dem Zynismus bedient das Wort, charkterisiert eine Welt in seinem Selbst, die widerum ihn charakterisiert, drückt die Summer der Teile seiner Welt, die ihn charakterisieren aus und schreibt. Der Autor, der Künstler, der Mensch ist ein unentwegter Versuch sich mit der Welt und die Welt mit sich abzustimmen. - Mir persönlich scheint die alltägliche Welt sowenig geheimnisvoll, wie der Tod dem Suizidanten mythisch ist. Die Bedienung der Abstraktion ist mir selten ein mythisches Anliegen, denn des öfteren die Verzweiflung um die Unzulänglichkeit meiner (Ausdrucks-)Mittel. - Die Metapher ist der dienlichste Weg, die schreibbarste Möglichkeit auf Abwegen. Also, was mich betrifft, weniger das Motiv der Verzauberung, als eben eine bewusste Entscheidung. - Wer in der Abstraktion den Raum leeräumt an konkreten Dingen, gibt dem Leser den Raum um sich mit seinen Dingen darin einzurämen, um zu erfahren, wie er sich darin einrichtet und gestaltet. Das schätze ich für mich persönlich an der Art und Weise und ich mag gern Kafkas oder Becketts oder Jandls oder Handkes Stuben.

Dank für Kommentar und Lesen. lg

lg
criSis (37)
(15.09.08)
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sozusagen (31)
(15.09.08)
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marcito (28)
(16.09.08)
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Joe (52)
(01.11.08)
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