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Zu einem Moment:
.. ich dachte, nimm ein bisschen Schnee aus meiner Stadt, nimm ein bisschen Schnee von den Wimpern, bitte, - und fingerte meine kalten, vom Dezember gemaserten Händen hinein in die Falte meines Mantels, da ich, da ich wieder einmal nicht wusste wohin mit meinen Händen, diesen Gliedern, die seit geraumer Zeit nur mehr Ausdruck meiner Erbärmlichkeit sind. Es lässt sich nichts verbergen, nichts leugnen, nichts kaschieren und ich schiebe sie in diese eine tief hingefallene, aufgeworfene, aufgebrachte Falte, lehne sie an den Bug, stütze mich ab, meine Hände, um sie wieder herauszuziehen, sie aus dem Stoff zu heben, sie umzuschichten, nervös, fahrig, zerkratzt, aufgerissen. Meinen Mantel, sie fordert mich auf, meinen Mantel abzulegen. Lächelt. Unmittelbar fühle ich, wie die Kehle eng wird, der Speichel im Mund zäh wird, die Atemluft borstig und knapp wird, die Wangen kalt, wie mir die Lippen trocken werden und wie alles in mir seine Ordnung verliert, wie ich in Unordnung gerate, allein durch diesen einen Satz. An manche Dinge gewöhnt man sich nicht. Ein dreißigstes Jahr. Seit fünfzehn Jahren habe ich dieses Haus nicht mehr ohne Mantel betreten, seit Jahren keines meiner Kleidungsstücke hier abgelegt. Es ist undenkbar.
Sie sitzt aufrecht. Ist alt geworden. Eine leichte Röte hebt die Kontur ihrer Mundwinkel hervor und tausend kleine, schuppige Fältchen kräuseln die Oberlippe. Ihr Mund ist gewinkelt, dem Augenblick gemäß, wie das bestimmte Werkzeug einer Garage. Er hängt leicht zu Boden, dieser Mund. Sie stellt mir eine Tasse hin, stellt die zweite Tasse mit Untersatz an jenen Platz am Tisch, den sie sich selbst zugeteilt hat. Sie stellt mir eine Zuckerdose hin, den Löffel. Wie jedes Jahr. Sie weiß, dass ich keinen Zucker nehme, keinen Löffel brauche. Auch diesmal sind die Servietten rot und das Tischtuch ist jenes alte weiße mit Häkelspitzen. Es ist alles gleich geblieben, denke ich. Die Vorhänge nehmen ein halbes Haus ein und verschlingen Licht. Das Haus bräuchte seit Anbeginn Licht, hat jedoch nur Vorhänge, weil die Umstände des Hauses primär nach Vorhängen verlangen und nur sekundär nach Licht, weil dieses Haus ohne Licht angefangen hat und ohne Licht enden wird. Das hat Mutter erkannt und sie hat sich und dieses Haus danach eingerichtet; war schon immer ein intuitiver Mensch und hat es verstanden, dem Leben sowenig Komplikationen wie möglich zu bereiten. Ein Haus, ein Fenster, ein Vorhang. Es hat geschneit, sagt Mutter. Ja Mutter, es hat geschneit. Sie ist schlanker geworden. Die Handgelenke sind dünnhäutig und das Uhrband liegt nicht mehr straff an der Haut so wie früher. Jetzt kann sie zumindest zwei Finger dazwischen schieben und jedes Mal wenn sie ihre Tasse zum Mund führt, um daraus zu trinken, rutscht die Uhr am Unterarm hoch Richtung Beuge und verschwindet im Ärmel des Schlafrocks. Früher hat sie wenigstens zu Weihnachten den Schlafrock noch ausgezogen. Nicht mehr dieses Jahr. Flecken am Kragen. Es weht ein kalter Nordwind, - sagt Mutter, - der Wind macht die Luft schneidig. Ja Mutter, es hat merklich abgekühlt. Sie schippt drei gehäufte Teelöffel Zucker in ihren Kaffee, rührt nach rechts. Wird nun in der Tasse mit dem Löffel Kreise ziehen, bis ich den letzten Bissen Kuchen hinunter geschluckt haben werde, wird Kreise ziehen und diesen nur eine Richtung geben. Wird den Löffel am Ende auf die Untertasse legen ohne getrunken zu haben. Wird am Ende ihre Tasse beim Henkel nehmen, mit ihr ins nebenan liegende Zimmer zum Abwaschbecken gehen, den Sud in den Abfluss schütten, sie mit Wasser ausspülen, eine Flasche Wein mit an den Tisch nehmen, sich setzen, sich unmittelbar einschenken bis zum Tassenrand und die erste Tasse leeren, ohne diese auch nur einmal abzusetzen. Wie jedes Jahr. Der Schnee wird dieses Jahr liegen bleiben. Ja Mutter, der Schnee wird dieses Jahr liegen bleiben. Sie wischt mit dem Handrücken über ihren Mund, langsam, genau, von Winkel zu Winkel, wischt die Hand in den Schlafrock, schenkt sich erneut ein, bis ein bisschen Flüssigkeit über den Tassenrand schwappt. Sie lehnt sich zurück in die Bank, macht das Gesicht zu einem angestrengten Nachdenken, - obwohl sie keineswegs nachdenkt. Es ist offensichtlich. Künstlich. Mutter ist Künstler. Selbst auf ihre alten Tage noch. Es ist gut, dass du keine Blumen mehr kaufst, es ist gut, es lohnt nicht, Blumen zu kaufen, die nach wenigen Tagen weg geschmissen werden müssen, sie. Ja Mutter, du möchtest keine Blumen. Ab Weihnachten werden die Tage wieder länger, ab Weihnachten. Ja Mutter, ab Weihnachten werden die Tage wieder länger. Ich schlafe schlecht in letzter Zeit, sagt Mutter, wobei ihr Blick am Tisch liegt, eben dort wo er seit Anbeginn liegt, wo er sich mit Mutter hingelegt hat und wo er sein kann, ein unruhiger Schlaf, sagt Mutter, eine Unmöglichkeit, dieser Schlaf; habe mir ein Mittagsstündchen angewöhnt, das tut mir gut. Das ist gut Mutter, das ist gut. Morgen ist Heilig Abend, sagt sie noch, so wie jedes Jahr, sie sagt, dass Heiliger Abend sein wird und nun wird sie gleich sagen, dass sie sich ein wenig hinlegen wird, dass ich den Weg doch selbst nach draußen finden würde, nicht wahr, ohne den Blick, der für alles zu müde geworden ist, noch aufzuheben. Ich bin überanstrengt, sagt sie und sagt, dass sie sich ein wenig hinlegen werde. Ja Mutter, du siehst müde aus, sage ich. Und ich ziehe wie jedes Jahr die Hand aus der Falte, lege sie auf den Tisch. Hoffnungslos. Ohne Sinn und ohne Frühling und sage: Frohe Weihnachten, Mutter, - und Mutter legt den Kopf in die Wand, die hinter ihr steht, fest und weiß, und hat keine Idee mehr und ich stehe von der Bank auf und nehme meine vom Dezember gemaserten Hände vom Muttertisch fort und meinen Mantel, den ich seither nicht mehr ausgezogen habe, nehme ich und gehe leise hinaus zur Küchentür und hinaus zur Vorzimmertür und leise hinaus zur Eingangstür ..
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