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Es muss etwas passieren, es muss was geschehen, so kann das nicht weitergehen. Das sind keine Standards für eine Fortschrittsgesellschaft, das ist eine Zumutung, sozusagen ein mutierter Mut, ein unsinniger Mut zu unhaltbaren Zuständen, also Zustände, die, jäh erkannt am besten noch heute einer Reform zu unterziehen sind und eine gründliche Überarbeitung des gesamten Konzeptes verlangen, schleunigst, allerschleunigst eine Aufhebung dieser Missstände und, überhaupt Verhältnisse sind das in dem Haus, herrgottnochmal!, wir sind eine zivilisierte Gesellschaft und müssen uns den Kopf zerbrechen über Frühstück und Abendessen und Mittag sowieso. Gestern, sagt Tom zu Tim, musste John doch tatsächlich hungrig zu Bett gehen. Was sind das für Zeiten. John muss Brot essen, immer das gleiche Brot und es hängt ihm zum Hals heraus und Tim verträgt den Reis nicht, er kann diesen Reis nicht mehr essen, ja, so bekommt er schon ein flaues Gefühl im Magen, wenn er nur an diesen Reis denkt, dieser Reisflug, gequollene, gekochte Haufen, die biologisch und Dinkel und teuer sind, was zwar eine moderne Ideologie begründet, aber doch zu nichts nützlich, wenn keiner ihn verdauen kann und Durchfall macht, im Ganzen durchfällt, halbweiß und schwer in seiner hochwertigen Bekleidung an den Darmzotten vorbeistürzt wie ein Manager, auf dessen Businessplan das Gesetz der Gravitation sein Grund ist. Also abwärts. Da scheißt sich das Körndel was um die Bedürfnisse einer Zotte. Punkt. Und Tim findet außerdem, dass verhältnismäßig zuviel Gemüse aufgetischt wird. Er stellt fest, dass viele anderen das scheinbar auch finden, möchte diskreter Weise nur als Randbemerkung feststellen, dass die Hälfte der Gerichte ohnehin in den Mistkübeln für Bio-Abfälle landen. Weil, kein Mensch verträgt das auf Dauer. Man bekommt Magenschmerzen von dem ganzen Vollwert und Sonnengereift und Roggen und Schrot. Herta findet Bio grundsätzlich nicht schlecht, sie findet nur, dass hier einfach zu fett gekocht wird. Ihr wird häufig übel und jedes vierte Gericht kann sie nicht essen. Zumeist beschränkt sie sich auf Suppen, Salat und Obst. Sie hat seit der Zeit, die sie in dieser Gegend wohnt, hat sie bereits zwölf Kilo zugenommen. Hunger hat sie auch manchmal, sagt sie, aber eher, weil sie das fette Essen nicht verträgt und sohin sie nur Salat essen kann. Irgendwie könnte das alles auch einfacher sein. Herta findet, dass ihr das Leben hier schon schwer gemacht wird und irgendwie, würde sie hier was mitzureden haben, würde ihre Stimme Gewicht haben, würde sie viele Dinge ändern. Thea und Hermann möchten, wenn sie sich was wünschen dürften, mehr Fleisch sehen in den Speiseplänen. Der Mensch braucht Fleisch und, ein Mensch, der gesund bleiben will und froh, kann doch nicht nur von minderwertigen Nahrungsmitteln leben. Die Hälfte hier ist minderwertig, wirklich, kaum nahrhaft und Thea kaut und kaut auf den Salzkartoffeln herum, schiebt sie von der linken Backe in die rechte, schiebt den vollen Teller am Tisch mal einen Zentimeter nach links mal einen Fingerbreit nach rechts, stochert mit der Gabel ein wenig ins lauwarmen Kraut, in diesen großen blassen Krauthaufen, der ihr nicht schmecken will und entscheidet sich schließlich, dass sie das nicht essen kann, sie weiß, dass es heute noch Kuchen geben wird und also gibt es für Thea zum Glück noch eine Alternative. Gott sei Dank und so weiter.
Irgendwie: Die Tische biegen sich. Aus schweren Keramiktöpfen dampfen Speisen. Aus Schüsseln rauchen Suppen. Über Tellerränder hängt die eine oder andere Nudel. Der Raum vermischt Gerüche von Essen zu einem satten Brei. Irgendwie schmeckte das auch schon mal besser sagt Ulf und nimmt den Salzstreuer um ein drittes Mal nachzuwürzen.
Renate sagt nichts. Renate sitzt am hinteren Tisch und schweigt sich in gefaltete chlorfrei gebleichte Servietten und Weihnachtsgesteck hinein. In letzter Zeit beißt sie nicht mal mehr die Zähne zusammen. Früher hat sie manchmal, man konnte das sehen, hat sie ab und an ohne ein Wort zu sagen, so fest auf ihre Zähne gebissen, dass an den Wangen die Sehnen hervortraten. Früher hat Renate manchmal zynische Bemerkungen vom Stapel gelassen, sich über die Tischdekoration hinweg geschleudert, hat versucht uns allen unsere billige Armut auszutreiben. Die konnte schimpfen wie ein aufgebrachter Zugvogel im Haselstrauch. Seit einigen Jahren weiß sie jedoch nur mehr Schweigen. Nur manchmal sagt sie ein wenig beiläufig, dass sie findet, dass wir verrückt sind, dass sie unser Verhalten wirklich geisteskrank findet. Sie meint das im Ernst. Nicht herablassend oder zynisch, so wie früher, sondern mit ruhiger Stimme redet dann der Mund im Wuschelkopf. Wir sind in ihren Augen bemitleidenswerte Kreaturen glaube ich, sind, so Renate, Hirnverkrüppelungen, Mutationen einer westlich kapitalisierten Gesellschaft, die in ihrer Sinnentleertheit und Erbärmlichkeit eines Tages noch über vollen Tellern verhungern werden. Egal. Renate ist das egal und sie hat ihrerseits aufgehört mit uns. Schade.
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