Pepe aus Argentinien

Kurzgeschichte zum Thema Märchen

von  Secretgardener

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Eine Geschichte, die man so vielleicht gar nicht kannte. Pepe, der nicht mehr ganz so junge Holzwurm aus Argentinien, erlebte viele abenteuerliche Geschichten, doch diese eine erzählt er immer besonders gerne, wenn der Abend sich dem Ende zuwendet und es still geworden ist. So wie auch an diesem Abend, als seine alten Freunde einen neu hinzugezogenen Mehlwurm in die Runde einführten, was er aber erst anfing nachdem man ihm für diesen Abend alle Runden spendierte.
„Es muss so um das Jahr 1864 gewesen sein, als ich gerade von einer Schiffsreise quer durch den Pazifik  wiederkam. Ich bekam jedoch wenig von dieser mit, da ich die erste Hälfte in einem Whiskeyfass steckte und die andere Hälfte damit verbrachte nüchtern zu werden.
Ich kam also eines lauen Aprilmittags wieder in meiner Heimat an und sog erst einmal einen Fingerhut Heimatluft ein. Mit der Neugier eines lange Fortgebliebenen schaute ich mich an meinen einst vertrauten Plätzen um und buchte schließlich ein Zimmer im Hotel Maha Goni um gleich danach auf einen Schlummertrunk in mein Stammlokal „Zum Birkenwäldchen“  zu gehen. Dort hörte ich von einer Überfahrt übernächsten Morgen nach Italien. Ich hatte zwar gerade eine längere Reise hinter mir – und diese würde noch länger dauern – aber diese Köstlichkeiten dort wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Meinen letzten Tag verbrachte ich mit einem langen Schlaf, danach packte ich meine Sachen und lauschte dem Dampforgelspieler und erfreute mich am Ölgeruch. Frohen Mutes hangelte ich mich über das Tau hin zur „Windes Eile“, dessen Segel sanft im Abendwinde wehten. Meine Liebe für wohlgeformte Beine, die mich zu meinem größten Abenteuer schicken sollte, führte mich an den Kapitänsessenstisch. Zwar mochte ich die teils rauen Sitten und Späße der Besatzung, doch auf Dauer befriedigte mich nur eine stilvolle Unterhaltung zwischen der Führungsriege. Die Männer waren tüchtig, der Smutje nicht süchtig, ein jeder mochte den Maat, und so ging es an den Start.
Wir setzten frisch Segel und gerieten gleich in der ersten Nacht  in einen Sturm, der dem unerfahrenen und gerade angesprochenen Smutje einen Finger kostete. Ich gab meinen Posten neben dem Kapitän frühzeitig auf, denn es kam das Gerücht auf, dass die Lebensmittel schnell knapp werden könnten, darum machte ich mich schnell auf meinen Anteil in Sicherheit zu bringen. Ich blieb jedoch nicht allein, denn auch die Besatzung kam recht schnell auf diese Idee. So unglaublich bedeutungslos die Gemüter der einfachen Leute auch seien mögen, wenn es um ihren eigenen Skalp geht verstehen sie es zu planen und zu tricksen. So lernte ich sie auch schnell alle kennen und konnte mich dessen vergewissern, dass es eine jener Besatzungen war, die zwar relativ gewissenhaft ihre Aufgaben erledigte, aber kaum hatte man sich endlich alle Namen aller ausdruckslosen Gesichter gemerkt, da heißt es auch schon wieder Abschied nehmen; denn bis auf einen zarteren, roten Iren wurde ich ihrer schnell überdrüssig.
Da die Winde ungewöhnlich gut für uns standen, kamen wir gut voran, und ich konnte im frühen Herbst bereits meine Unterkunft bei einem Winzer und Viehzüchter beziehen. Es war ein spaßiger und geselliger Mann, der seine Frau und 8 Kinder regelmäßig aufs Horn nahm und ihnen Streiche spielte. Sein kleines, aber stilvoll eingerichtetes Haus stand genau auf der Grenze zwischen dem Weinanbau, den Beeten und der Grasfläche für sein Vieh. Er mochte es alles planen zu können, damit er weniger Arbeit hatte. Auch seine Kinder waren geplant, 5 Jungs, 3 Mädchen, „genau die richtige Mischung“, wie er fand. Aber eines war nicht von ihm, das wusste er, doch er wusste nicht welches, und so wurde er regelmäßig geplagt vom Zweifel, welchem Kinde er da unverdient Nahrung verschaffte.
Von da an geriet ich über verschiedenste Stationen, wie etwa einen dickbäuchigen Bürgermeister, eine Dirne mit Hang zum Glücksspiel und einen blinden Waisenjungen zum Postkutschenräuber Mauro di Cavallino. Er war berühmt dafür niemals Waffen mit sich zu führen; ihm reichte seine Geschicklichkeit und er verstand es jede Situation zu seinem Vorteile auszunutzen.
Ich machte es mir gemütlich in einem der Wagenräder, die als Dekoration vor seiner Hütte standen – was mir selbst zu auffällig gewesen wäre.
Mehr durch Zufall als durch Planung ging ich dann einmal mit auf einen seiner Streifzüge und konnte nicht an mich halten, als ich unterwegs eine Tischlerwerkstatt sah. So trennten sich unsere spärlichen Wege, ohne dass er überhaupt Notiz von mir nahm – das Schicksal vieler meiner Artgenossen. Aber selbst, wenn man unsere Anwesenheit bemerkt, reagieren die Leute selten erfreut. So wühlte ich mich erst einmal durch den sägespängetränkten Boden um mich in einem alten Stück Tischbein von meiner Reise auszuruhen, das an einer warmen Stelle hinter der Tischbank gefallen war. Meine Ruhe wurde jedoch frühzeitig unterbrochen, als ich von meinem Vormieter di Cavallino  hörte. Sein jähes Ende brach förmlich über ihn herein, wie die Nacht über den Tag eines müden Arbeiters. Er hatte sich im Wald hinter einer Eiche versteckt und wartete auf die Kutsche, die die Tageseinnahmen einer Bank nebst Bankenchef selbst befördern sollte. Sein Plan sah vor sich mit einem Satz vor die Pferde zu werfen und sich die Überraschung zu Nutze zu machen; als Unterstützung sollte ihm ein Stamm dienen, den er mittels Schiffstau einige Meter weiter umstürzen wollte. Nun aber kam es so, daß die Pferde und der krankheits- und müdigkeitsgeschwächte Kutscher so erschraken, daß sie über einen großen Stein fuhren. Das Gefährt hüpfte linksseitig um und begrub di Cavallino unter sich. Der schwergewichtige Bankenchef wurde von der Truhe erschlagen, die neben ihm auf dem Sitz stand und auf die er persönlich aufpassen wollte. Sein einst so aufgequollenes Gesicht wurde von der schweren Truhe auf ein Mindestmaß an Breite reduziert. Dem Kutscher selbst wurden die Beine und die Hüfte eingequetscht, sodaß er langsam, vor sich hin wimmernd, erschöpft verblutete. Er sah aber noch verschwommen, wie sich die beiden Pferde aus ihrem Geschirr loslösen konnten. Sie rannten weiter den geplanten Weg, doch wieder kam das Unglück von linker Seite, in Form des präparierten Baumstammes, den das Tau zu Boden zog. So war Sir Benedict II. der einzig Überlebende dieser außergewöhnlich tragischen, wie auch unwahrscheinlichen Begegnung.
Schnell verschwunden waren alle Kostbarkeiten der Fahrgemeinschaft; die unbekannten Diebe, die die Stelle zufällig entdeckten, ließen es sich nicht einmal nehmen die verbogene, goldene und blutverkrustete Brille vom matschigen Gesichte des Bankpräsidenten zu ziehen. Erst 2 tage später fand die Polizei die Unglücksquelle und konnte die Verunglückten der Erde übergeben. Durch einige Unachtsamkeiten kam es, daß di Cavallino eine äußerst prachtvolle Bestattung bekam, während Bankenpräsident Salmaro nun nur in einem anonymen Massengrab liegt. Die Kutsche war völlig hinüber; auch, da die Diebe in ihrer Gier fast alles zerschlugen, in der Hoffnung auf versteckte Reichtümer.
Meister Antonio Kirsche wurde gerufen um zu prüfen, ob er von den Resten noch etwas gebrauchen könnte – er hatte letztens die Eingangstüre der Polizei repariert und einen sehr geringen Preis dafür verlangt, und so wollte man sich revanchieren, da die Kutsche sehr aufwendig und aus hochwertigen Materialien gebaut wurde. Mit einem Wagen und Sir Benedict II. als Zugkraft fand er schnell die Stelle und sah sich um, begutachtete, grub aus und hackte Teile aus dem Haufen heraus, der einst eine staatliche Postkutsche war. Während er alles, was er gebrauchen konnte in den Wagen lud, passierte es aber, daß er ein Rascheln, ein Stück weit tiefer im Wald, vernahm. Er ging dem nach, und dorthin, und dachte, daß es sich bei dem sich bewegenden Laubhaufen um einen Igel handelte. Vorsichtig nahm er die Blätter zur Seite und war verblüfft, als er darunter ein zappliges Holzscheit fand. Da es bereits dunkelte nahm er es in seinem Beutel mit um es zu hause zu untersuchen.
Mit dem Krachen eines erschöpften Handwerkers, der mit letzter Kraft am Abend seine Arbeit niederlegt, weckte er mich aus meinem Schlafe und Traum und ließ mich verwundert zurück. Er verschwand für eine Weile im Hof seiner Werkstatt und man konnte hören, wie Holz umgelagert, sortiert und geworfen wurde. Ein Licht schritt in meine Stufen ein, wurde auf den Tisch gestellt und flackerte beruhigend vor sich hin. Meister Antonio holte seinen mysteriösen Holzscheit aus dem Beutel hervor und betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten, konnte aber keine offensichtlichen Auffälligkeiten finden. So machte er sich auf daraus ein Tischbein für den Bürgermeister zu arbeiten, setzte den Hobel an und zuckte erschrocken zurück. Ich wusste nicht, ob ich aufgrund der Müdigkeit phantasierte, oder ob ich tatsächlich hörte, was ich glaubte gehört zu haben, doch da Meister Antonio meinen Gesichtsausdruck teilte, musste er wohl dasselbe vernommen haben. „Sei bitte vorsichtig“ tönte es aus Richtung des großen Holzscheites. Doch es konnte nicht sein, was als Tatsache in der Luft hing. Ich meine mich zu erinnern, wie der Meister mit dem Holz auf den Tisch klopfte und ein leises Stöhnen zu hören war. Ihm war die Sache so gar nicht geheuer und er legte alles beiseite und ging schlafen, da auch er alles auf seine Müdigkeit zurückführte. Ich jedoch wollte  mir das ganze auch einmal aus der Nähe ansehen und machte mich auf den Weg auf den Tisch. Von keiner Seite aber konnte ich auf etwas Erklärendes stoßen. Da aber so ein hochwertiges Holz auf mich eine faszinierende Wirkung hat, zog ich um und mich dorthin zurück. Nur wenige Zentimeter schaffte ich es meine neue Unterkunft beziehen, stopfte jedoch noch das Loch hinter mir zu, sodaß keiner meinen Einzug bemerkte. Den nächsten Morgen verschlief ich komplett und erwachte erst durch ein ratloses, zustimmendes Raunen des Herren meines neuen Zuhauses – Meister Gepetto, wie ich später herausfand - bei dem Gespräch mit meinem vorherigen Obdachspenders Antonio. Sie unterhielten sich bei einem Stück Brot über die Ereignisse von kurz vor dem Tod meines di Cavallino bis zum gestrigen Abend und der fremden Stimme. Auch Gepetto konnte sich keinen Reim darauf machen und schob es insgeheim nicht Antonios Schläfrigkeit, sondern seinem Weine zu. Man einigte sich darauf, daß der ältere, ärmliche Gepetto das Stück Kiefernholz behält und daraus macht, was ihm am besten in den Sinn kommt - er ließ es einige Tage neben dem Ofen stehen. Ich erkundigte derweil seine Hütte und kam zu dem Schluß, daß ich dort vielleicht noch eine Woche bliebe, aber nicht länger. Es gab nicht viel Interessantes, es kam kaum Kundschaft oder sonstiger Besuch, es war nicht gerade warm, kurzum: es war trostlos für jemanden wie mich. Die einzige Abwechslung, die sich mir bot, war die streunende Katze, die ich „Kaviar“ taufte, die manchmal durch die Fenster schaute und vom Meister ein klein wenig Nahrung bekam. Die war nicht das Italien, weswegen ich mein Argentinien einst verließ.“
Er setze sein Glas ab um auf die Uhr hinter dem Wirt zu schauen. „Der Rest dürfte euch ja mehr oder weniger bekannt genug sein, ab da ist die Geschichte allgemein gekannt.“ – „Ja Pepe, doch ich bitte dich“, flehte ihn der kleine Agustín an, Marienkäfer seines Zeichens, „uns wenigstens zu erzählen, wie Du mit der Geschichte zu tun hattest.“ Pepe, bei dem der Alkohol schon merklich seine Wirkung zeigte, willigte ein, mit gespieltem Widerwillen. „He, Wirt! Noch ein Glas für Pepe.“ – „Wo war ich?“ – „Kaviar, die Katze.“ – „Ach ja.“
Ich dachte mir also schon langsam Umzugspläne aus, als den Meister der Ehrgeiz packte. Morgens, als er wieder mit einem Stücke Brot und einem Kaffee am Tische saß und seine Blicke durch das verstaubte Fenster in die Ferne schweiften, fiel sein Blick auf den Holzklotz, den ich zuvor mein Zuhause nannte. Vielleicht war es das Alter, das ihm einen Streich spielte, vielleicht war es aber auch die Einsamkeit die ihn trieb. Jedenfalls kam ihm die Idee daraus eine Holzpuppe zu schnitzen, obwohl es keinen Auftrag dafür gab – ich wusste das, da ich mich zuvor durch seine Auftragsbücher arbeitete. Stunden- und tagelang hobelte er, sägte, schliff und lackierte. Der Meister war nicht mehr so schnell wie einst, aber, wenn man ihm zusah, spürte man deutlich die Erfahrung, die in ihm steckte, und daß er sich trotz manch fehlendem Werkzeug immer zu helfen wusste. Ich sah gespannt zu, wie sich aus einem Stücke Holz nach und nach eine lebensechte Puppe entwickelte. Und noch gespannter auf das was kam, und noch viel mehr überraschter, war ich, als die Puppe plötzlich anfing Leben zu zeigen. Nicht die Art Leben, wie sie ein träumerisches Gemälde, oder eine gelungene Skulptur ausstrahlt, echtes, bewegtes Leben. Gepetto, ganz rational, meinte sogleich, daß er nun einen Namen bräuchte, da alles Leben, das einen über den Knöchel reicht und kein Zuchtvieh ist einen Namen braucht, da es sonst herrenlos sich selbst und anderen gegenüber erscheine. Immer noch in Überraschung vergaß ich meine oberste Priorität keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und rief ihm „Porfirio“ entgegen. Der Meister musste es leise gehört und es für sich selbst als einen Geistesblitz gehalten haben, doch er hörte es nicht so, wie ich es rief. „Auf daß du ab nun „Pinocchio“ heißen sollst.“ „Pinocchio“, wie er nun hieß, sah sich mit erstaunten Augen um, musterte (oder versuchte es wenigstens) alles um sich herum.
Ein Kleinkind erfasst erst nach und nach alle Eindrücke und lernt allmählich sie einzuschätzen, doch Pinocchio überfielen diese Einflüße mit einem Male, und sie alle waren unbekannt für ihn. Man sah ihm an, daß ihn all das fast umwarf; er hatte Mühe sich auf seinen hölzernen Beinen zu halten (wohl auch, weil er noch nie zuvor auf ihnen stand). Man bedenke nur, wie es einem selbst erginge in gleicher Situation! ich glaubte jeden Moment aufzuwachen, da es so unglaublich war, aber Pinocchio verhielt sich ganz so, wie man es von einem kleinen Menschen-Jungen erwarten würde. Gepetto war begeistert, wohl auch, da er nie eigene Kinder hatte – außer einst vor vielen, vielen Jahren in Genua, auch einen Buben, der aber im Alter von 7 Jahren in einem See ertrank.
Da es ein Freitag war, blieb dem Meister das ganze Wochenende um zu versuchen ihm alles  zu erklären, was er für den Moment über die Welt wissen musste. Nur das Wochenende, da er ihn rasch in der Schule angemeldet hatte. Auch ich dachte mir ihm unter die Arme zu greifen, mein Alter und meine Erfahrungen weiterzugeben,  und schlüpfte wieder in mein Loch, das nun in ihm war, etwas unterhalb des linken Knies, von wo aus ich gut zu ihm reden konnte.
Am Sonntag hatte ich Gelegenheit mich ihm vorzustellen, als er auf dem Feld spazieren ging und Vögel jagte. Ich erzählte ihm in kurzen Sätzen (da Gepetto ihm schon tags zuvor stundenlang zuredete) von mir und meiner Reise bis zu diesem Punkt. Er war neugierig – was eine seiner wesentlichsten Charakterzüge ist, wie sich später herausstellen sollte – auf alles über mich und vor allem das, was ich schon alles gesehen hatte rund um die Welt.
„Und wie alt bist du überhaupt?“ frug er. „37 Jahre schon lebe ich auf diesem, unseren Planeten. Du kannst mit solch einer großen Zahl wahrscheinlich nichts anfangen, nicht einschätzen, wie alt das ist.“ – „Nein, das kann ich leider nicht. Werden Holzwürmer denn so alt?“ – „Nein, Holzwürmer werden, soweit ich weiß, nicht so alt, aber das interessiert mich nicht, ich werde so alt, wie ich gedenke alt zu werden.“ Und so unterhielten wir uns noch für Stunden, das heißt vielmehr ich erzählte ihm.
Als er dann Montag morgen zur Schule gehen sollte, bat er mich ihn doch zu begleiten, und ich verschwand wieder in seinem Knie – durch die Vibrationen des Holzes konnte er mich von dort gut hören.
Gepetto führte ihn in die Schule und übergab ihn den Lehrern. Ich sagte ihm, mit welchen Kindern er sich gefahrenlos anfreunden könne und von welchen er besser Abstand nehmen sollte, doch natürlich hörte er nur bedingt auf mich. Mir war gleich klar, daß dieser „Röhrle“ ihn noch einmal gewaltig Ärger bringen sollte. Nach der Schule erklärte ich ihm das, was er in der Schule nicht gleich verstand, denn der Meister war zwar keinesfalles dumm, doch seine Schulzeit war schon Ewigkeiten her. Auch Pinocchio war keinesfalles dumm, vielmehr ließ nur seine Aufmerksamkeit stark zu wünschen übrig. So vergingen die Tage und es wurde ein richtiger Schuljunge aus ihm - ein Schuljunge jedoch, der Probleme regelrecht magisch anzog. So kam es, daß unter anderem dieser Röhrle ihn mit Regelmäßigkeit in Schwierigkeiten brachte. Die meister Kinder in der Schule waren zwar erstaunt und verwundert über diesen Jungen, der doch augenscheinlich nur aus Holz bestehen zu schien und waren daher äußerst neugierig, doch verhielten sie sich ansonsten normal und anständig ihm gegenüber. Viele Fragen konnte Pinocchio gar nicht beantworten, sodaß ich ihm weiter helfen musste, sei es auch nur mit Floskeln und Ausreden.
Röhrle schließlich brachte ihn sogar dazu die Schule zu schwänzen und in der Gegend umher zu irren.  Ich versuchte natürlich vehement dies zu unterbinden, doch, hat er erst einmal einen Entschluß gefasst, ist es fast unmöglich ihn wieder davon abzubringen, so sehr ich auch auf ihn einredete. Und so kam es, wie es kommen musste: er steckte in der Klemme, und zwar fest. Sie beide ließen sich vom Puppenspieler Feuerfresser gar hypnotisieren, doch mir war dieses Funkeln in seinen Augen von Anfang an nicht geheuer, was ich Pinocchio selbstredend ausdrücklich mitteilte, was er selbstredend komplett ignorierte. Daß mein hölzerner Freund entkam ist bekannt, nicht aber, daß er das wohl mir zu verdanken hat. Ich lebte ein paar Jahre bei einem Juristen, und so war ich vertraut mit der Art, wie man zu Menschen reden muß, damit man bekommt, was man will. Pinocchio, der endlich den Ernst der Lage begriff – nämlich, daß Feuerfresser ihn braten wollte – hörte plötzlich auf meine Worte; wobei ich aber gestehen muß, daß ich beide erst einmal etwas zappeln, respektive schwitzen ließ, auf daß sie in Zukunft etwas früher zu Vernunft kämen. So ließ ich Pinocchio also auf Feuerfresser einreden und ihn von sich und seinem alten, armen Vater (wie er den Meister nannte) erzählen. Etwas überrascht ob seiner schnell fallenden Widerwehr war ich schon, denn Feuerfresser band nicht nur beide recht schnell wieder los, sondern gab meinem Freund sogar noch ein paar Goldstücke mit, damit er zuhause etwas mehr habe. So schnell Röhrle losgebunden war, so schnell sah ich ihn auch nicht mehr, denn er rannte verängstigt nach Hause, Pinocchio zurücklassend.
Ich gebot es ihm, es diesem Kerle gleich zu tun, doch er setzte sich - mehr erfreut über sein Glück im Unglück, als erschrocken – in Bewegung. Ich redete natürlich ununterbrochen auf ihn ein, doch wenn das schon bei einem normalen Jungen kaum etwas bewirkt, so erst recht nicht einem mit einem Kopf komplett aus Holz. Und so kam es wieder, wie es kommen musste: er steckte wieder in der Klemme, oder vielmehr auf dem Ast einer Eiche, nach dem man ihm seiner Goldstücke auf räuberischer Art und Weise entledigte. Doch diesmal war nicht ich es, der ihn wieder aus der Patsche half (denn, hätte ich den Ast zum Brechen gebracht, wäre Pinocchio nur nach dem Falle zerstört gewesen), sondern, so unglaublich es auch klingen mag, eine Fee, mit dunkelblauen Haaren noch dazu. Doch ich hatte bis dahin bereits zuviel gesehen, und mich noch über so etwas zu wundern.
Um es kurz zu machen: Wir gerieten noch in die Fänge eines Bauern, wurden von einer Taube begleitet als wir endlich wieder auf dem Weg zum Meister waren, der wiederum uns mit einem Boot suchte, das er in seiner Sorge selbst baute, wurden auf die Insel der fleißigen Bienen getrieben, als wir Gepetto im Meere zu Hilfe kommen wollten, trafen die dunkelblauhaarige Fee wieder, der Pinocchio hoch und heilig versprach, daß er sich besser und zur Schule gehen wollte (was ich aber bei seiner Aufmerksamkeitsspanne stark bezweifelte), trafen Röhrle wieder, der Pinocchio mit ins Land der Spielereien nahm.
Sie müssen wissen, ich tat mein Möglichstes, um ihn von all diesen Probleme zu schützen, doch was konnte ich schon tun? Körperliche Gewalt hatte ich verständlicherweise nie über ihn, und auf all mein Zureden hörte er nur, solange wie ihn der Schalk nicht zu arg im Nacken saß.“
Man klopfte Pepe als Zeichen der Zustimmung auf den Rücken. Es war schon sehr spät geworden, die Kerzen im Raume waren beinahe komplett herunter gebrannt. Pepe holte tief Luft und sagte, daß er sich schnell dem Ende nähern wollte, bevor er wieder begann zu erzählen.
„Diese zweite Insel also, die des Lasters und der Faulheit, kam mir gleich suspekt vor. Sie müssen wissen, ich bin ein Arbeiterkind, geboren in einer Arbeiterfamilie. Wenn ich Prunk sehe, oder Anwesen, deren Größe geradezu lächerlich übertrieben ist, dann bin ich in erster Linie nicht begeistert, sondern frage mich, wie das Ganze funktioniert, und wer es in standhält, wie also auch bei dieser Insel. Schon bald bekam ich die Bestätigung meiner Bedenken, als nämlich Pinocchio und die Menschen allesamt in Esel verwandelt wurden. Nun, wir landeten wieder im Wasser, Pinocchio wurde wieder die Holzfigur, die er unter all dem Eselsstoffe doch war, wir wurden von einem Wal gefressen, in dem wir jedoch Meister Gepetto wieder trafen und mit einem kühnen Plan und viel Muskelkraft wieder gen Freiheit entkamen.
Durch all diese negativen Ereignisse, und, daß nun ich und der Meister auf ihn einredeten kam es, daß er langsam Vernunft annahm. Die Geschichte mit dem Wale war wirklich zuviel für ihn gewesen, nie sah ich ihn verängstigter. Er versprach dem Meister von nun an wirklich ein verantwortungsbewusster Junge zu sein, und fleißig seine Aufgaben zu erledigen. Diesmal war es ihm tatsächlich ernst, das konnte man spüren. ich redete weniger auf ihn ein, wollte schauen, in wieweit er eigene, gut überlegte Entscheidungen treffen könnte, und zu meinem Erfreuen verhielt er sich seinem Vorsatze entsprechend.
Dann, eines Nachts, kam die Fee durch das Fenster in unserem Zimmer. Ich erzählte ihr, was wir noch alles erlebten, und daß Pinocchio sich nun so benehme, wie man er von ihm erwarten könne. Die Fee, die auch den Meister schon eine geraume Zeit kannte, wusste, wie er lebte, konnten auch die Feengesetze nicht zurückhalten, und so verwandelte sie meinen einst hölzernen nun in einen echten Jungen, mit allem, was dazu gehört. Zuerst überwog natürlich am nächsten Morgen die Verwunderung der Freude, doch schnell war man sich des Wunders bewusst und über alle Maße glücklich. Meister Gepetto hatte endlich ein Kind und Pinocchio war endlich ein richtiger Junge.
Hier in etwa endet die Geschichte, zumindest der bekannte Teil. Natürlich gab es auch weiterhin allerlei Ereignisse, über die man berichten könnte, doch waren dies die Art Ereignisse, die man immer erlebt, wenn ein Kind dabei ist, sodaß ich darauf verzichten will sie wiederzugeben – bei Interesse kann man jede Mutter danach fragen. Ich blieb noch eine Weile, denn ich wollte noch sehen, wie sich Pinocchio entwickelte. Sicherlich war es oft nicht leicht, manchmal wusste auch ich nicht weiter, aber, wenn man jemanden hat, an den man glaubt, dann ist man bereit soviel zu geben, wie es braucht, auch, wenn das mitunter eigene Verluste bedeutet, denn es lohnt.
Über einen Postreiter, der nach Rom fuhr, einen Wirt dort, einen Verwalter, der Nahe der Überreste Alexandrias wohnte, und mehrere Bauern setzte ich meine Europareise fort, bevor ich endgültig auf einem Schiff der königlichen Flotte Spaniens wieder hier her fand.
Ich weiß, daß die Geschichte, so wie man sie sich erzählt, und wie sie in manchem Buche steht, anders klingt, doch ich kann euch versichern, daß ich alle das mir Zugestoßene so berichtete, wie ich mich daran erinnern kann. Ich selbst tauche dort nicht mehr auf, zumindest nicht in der mir eigenen Form. Meine Spezies eignet sich nicht für Geschichten, also wurde meine Rolle umgeschrieben. Ich gebe aber zu bedenken, daß „Jiminy Cricket“ in manch Buchadaption auch „Pepe“ genannt wird.“
Mit diesen letzten Worten begaben sie sich vor die Wirtshaustüre, denn da trieb sie der Wirt, der das Erzählten dieser Geschichte des Öfteren erlebte, hin. Und so lebte Pepe bis an sein Lebensende weiter in Argentinien, mal hier, dann mal wieder dort. Und zwar so lange, wie er gedachte zu leben.
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Anmerkung von Secretgardener:

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Für Lizzy geschrieben.
Im Zug.
Idee stammt aus einem Gespräch mit Ihr.
Etwas inspiriert (besonders der Unfall) vom genialen und kranken Guy de Maupassant.

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Kommentare zu diesem Text


 Unbegabt (11.01.09)
oh ich finde holzwürmer eigenen sich doch superfür geschichten, wie du es mir eben bewiesen hast.
ganz wundervoll also.
ja die sache mit der kutsche, uah. :D


(tut mir leid, dass ich mir so lange zeit ließ sie zu lesen) :)

nele

 Secretgardener meinte dazu am 11.01.09:
Ist ja nicht schlimm, wenn es etwas dauert...
Ja, die Kutsche, da überkam mit eben de Maupassant, dieser kranke Typ ^^ macht aber auch sehr Spaß sich sowas auszudenken, hehe.
Lieben Dank für das Lob und den ersten Kommentar hier; freut mich, wenn´s Dir dann so gefällt. =)
Liebe Grüße, A..
Riotstarter (24)
(20.01.09)
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 Secretgardener antwortete darauf am 20.01.09:
Danke.
Ja, hier steckt schon mehr Arbeit drin. Die Szenen mit der Kneipe waren etwas holprig beim Schreiben, ich schrieb sie auch nachträglich rein, aber die Kutschenszene machte wirklich Spaß. ;)
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