Alles Kohl

Bericht zum Thema Bildung/ Wissen

von  AndreasG

„Hat Helmut alles verdorben?“ hieß die Motto-Frage des diesjährigen Symposiums für Angewandte Reflexion der primärproduktiven und integrativen Agronomie (SARPPIA). Dieses, inzwischen siebenundvierzigste, Symposium hatte das Bestreben endlich die soziale Verantwortung, die historischen Wurzeln und die zukunftsweisenden Techniken der Brassica-Nutzung aufzuzeigen und schonungslos auf Versäumnisse, Missverständnisse und Fehlentwicklungen hinzuweisen.

Als erster Redner trat Prof. Dr. Rainer Labs von der Universität Kohlhausen (Bad Hersfeld) an, die weit verbreiteten medizinisch-kulinarischen Vorurteile auszuräumen. Prof. Labs ist ein weltweit anerkannter Fachmann für Ernährungsfragen, leitender Redakteur der Zeitung „Fressen und Stinken“, überzeugter Kohl-Hülsenfrucht-Vegetarier und erklärter Liebhaber langer Aufzugfahrten.
Schon seine Ausgangsthese traf ins Mark des Problemkreises, die Verriegelung der Fluchttüren tat ein übriges. Seine Forderungen auf Kümmel zu verzichten und dafür den exzessiven Gebrauch von Lauch einzuführen, stieß zwar noch auf Skepsis, doch als er bewies, dass er seit vielen Monaten diese, durch und durch gesunde, Ernährungsweise im Selbstversuch testete, da flimmerte die Luft im Saal. Erst rümpften noch einige die Nase, aber bald konnten die Symposiumteilnehmer gar nicht genug von den pointierten Ausführungen bekommen. Allen stieg dieser Duft des Neuen in den Kopf, die Wahrheit war schmeckbar geworden, greifbar, ja: schneidbar.
Leider musste dieser wunderbare Vortrag, der die Grenzen der Wahnnehmung in bisher unbekannter Weise auslotete, unterbrochen werden. Einige der Teilnehmer hatten sich offenbar zu sehr mitreißen lassen und ihre Kräfte überschätzt. Es kam zu Schwächeanfällen und als Prof. Labs nach der Unterbrechung weiter machen wollte, beendete ein Haustechniker die Veranstaltung. Ein seltsamer Geruch käme aus der Klimaanlage, führte er über Lautsprecher als Grund an, ein Schwelbrand sei nicht auszuschließen.
Prof. Labs erklärte sich zwar bereit, die Rede im Sitzungssaal des Nachbargebäudes fortzuführen, aber durch die vielen Störungen wurde nicht mehr die prickelnde Atmosphäre wie zuvor erreicht. Irgendwie war die Luft raus.

So musste Rüdiger Rübsenhof, der zweite Redner und Kolumnist der Zeitschrift “Schöner Kohlen“, sein Publikum selber einstimmen. Was ihm auch gut gelang, denn auch er begann mit einer kleinen Sensation, seiner neusten Theorie: „Der Wirsing ist nicht erst seit zweihundert Jahren in Deutschland bekannt.“
Wie zu erwarten, kochte innerhalb kürzester Zeit die Stimmung im Saal. Besonders die Hardliner unter den Historikern, allen voran der altehrwürdige Marco de Collage aus Kolumbien, der in Savoyen lehrt, empörten sich enthusiastisch. Rufe wie “Frevel“ wurden laut und die italienischen und griechischen Vertreter, ansonsten immer zerstritten in der Frage, wer den Wirsing als Erster kannte, waren plötzlich einig in ihrem Zorn.
Doch Herr Rübsenhof war gut vorbereitet und ließ eine Kanonade an Argumenten auf die Erregten niedergehen. Hintereinander prasselten Zitate von Caesar, Sallust und Procop auf die Zuhörenden, dann kamen weniger bekannte Zeitzeugen des dreißigjährigen Krieges zu Wort und zum Schluss legte Rübsenhof eine Quelle offen, die bisher nicht bekannt war: eine Abhandlung über die Regeln der Falkenjagd über den Wirsingfeldern von Soest - von Friedrich dem Staufer. 
Plötzlich war Schweigen im Saal. „Friedrich der Staufer war in Soest?“ ging ein Raunen durch die Menge und die Diskussionen schlugen hoch.
Unser Reporter konnte zum Glück die bekannte Brassicalogin Daphne von Dampf dazu befragen. Ihre Stellungnahme war kurz, aber prägnant: „das wirft ein völlig neues Licht auf die Geschichtsschreibung des Mittelalters. Man denke nur an die Schlacht am braunen Feld. Was, wenn dort entgegen der gängigen Lehrmeinung Wirsing angepflanzt wurde und demnach Ludwig der Weiche, Erbdroste von Grütz und Pinke, nicht in Grünkohl erstickt ist, nachdem er mit geöffnetem Visier vom Pferd fiel und kopfüber ins Gemüse schlug? Mag es vielleicht sogar sein, dass sein eifersüchtiger Cousin ihn mit einem Wirsing erschlagen hat und es dann wie einen Unfall aussehen ließ? Wie wäre die Schlacht wohl ausgegangen, wenn es nicht dazu gekommen wäre? Was wäre passiert, wenn die böse Tat entdeckt worden wäre? – Auch muss die Attacke der schweren Reiter des Erzherzogs, von der nun wirklich jedes Kind schon gehört hat, völlig neu einsortiert werden. In einem Wirsingfeld galoppieren Pferde anders als in anderen Kohlfeldern und ein Großteil des Schadens beim Gegner mag durch spitz abgebrochene Wirsingstümpfe hervorgerufen worden sein, die durch die Pferdehufe aufgewirbelt wurden. Man denke nur an die tödliche Wirkung des Spitzkohls bei der Belagerung von Köln ...“
Im Laufe des weiteren Vortrags stellte Herr Rübsenhof selber einige der historischen Fakten in Frage. Besonders seine Ausführungen zu Hermann dem Cherusker fanden murmelnd Zustimmung. Ist es doch so logisch, dass die römischen Legionäre des Varus durch ihre offenen Sandalen anfällig für die Kräuselkrankheit waren. Auch die Kohlhernie mag sich durch befallene Wirsingblätter, die die Germanen auf dem Weg ausgebreitet hatten, auf die Füße übertragen haben. So geschwächt ist es nicht verwunderlich, dass das Rouladen-Gastmahl des Brassigetorix weite Teile der römischen Truppen dahin raffte.
Bis jetzt gab es einhelliges Unverständnis, warum ausgerechnet Rouladen tödlich gewesen sein sollten. Immerhin aßen nach den historischen Berichten auch die Gastgeber mit, was gegen eine Verwendung von Gift spricht. Aber Kohlrouladen ohne Kümmel und mit vielen Zwiebeln, als Beilage Kohlbällchen (in Ermangelung von Kartoffeln), Weißkrautsalat als Nachtisch, Wirsingdurcheinander als Zwischengang, kandierter Wirsing als Vorspeise und durch Krankheit geschwächte Truppen, die nur Getreidebrei gewohnt sind, ergeben ein völlig neues Bild vor der eigentlichen Schlacht.
Ja, wir müssen uns von dem Bild verabschieden, dass die Legionäre still und über Tage hinweg dahin gemetzelt wurden. Vielmehr nutzten die Germanen die reinigende Wirkung des Kohls, da er während der Entgiftung des Körpers gewisse Nebenwirkungen entfaltet. So hatten die römischen Legionen nicht ihre volle Mannschaftsstärke, da sich lange Schlangen vor den Latrinen gebildet hatten. Die Kommandos der Offiziere – soweit anwesend – wurden durch Blähungen übertönt. Die Unruhe beim Stillstehen senkte die Kampfmoral, wobei auch das Magengrollen nicht unterschätzt werden sollte. Nicht wenige Legionäre kräuselten sich auf dem Krankenlager oder litten unter bräunlich verfärbten Stellen … und dann kamen auch noch die Kohlfliegen. 
Ähnlich eindeutig sind jetzt die Fragen zu beantworten, warum die ärmlichen Kreuzritter Jerusalem einnehmen konnten, warum die Indianer nach der Ankunft der Europäer wie gelähmt reagierten, wie die Mauren aus Spanien vertrieben wurden und was auf dem Lechfeld wirklich geschah: Kohl. Wir werden wohl nicht lange warten müssen, bis diese bahnbrechenden neuen Erkenntnisse in den Lehr- und Schulbüchern Einzug halten.

Die weiteren Redner der Veranstaltung griffen neue Themen auf, wobei schon auffiel, dass die ersten Redner großen Eindruck hinterlassen hatten. So bekamen die Vorträge ganz neue Noten und mehrmals wurden sogar Diskussionen zugelassen. Letztlich kam auch endlich die Ursprungsfrage des Symposiums auf den Tisch und wurde strikt verworfen. Es ist wohl nicht das Tabu gegen den Namen eines Bundeskanzlers, der die Forschungen so lange behinderte; es ist wohl eher die gesellschaftliche Abwertung des Kohls als Armeleuteessen, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema behindert hat.
Nun, da dieser Bann endlich vom Kohl gefallen ist, wofür Herrn Prof. Dr. Rainer Labs und Herrn Rübsenhof ausdrücklich zu danken ist, mögen sich die Historiker auch mit der Steckrübe, dem Sellerie und dem Stielmus beschäftigen. Welche Geheimnisse wohl hinter dem Rhabarber verborgen sind? Welche Wahrheiten zeigt uns Schnittlauch? Was mag Spargel in der Welt verändert haben? – Das sind die großen Fragen der nächsten Jahrzehnte.

Das Thema für das nächste Symposium steht schon fest: „Hat das panzerbrechende Radieschen einen Einfluss auf die Kriegskultur des ausgehenden Mittelalters gehabt?“ – Wir dürfen gespannt sein.

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Kommentare zu diesem Text

Joe (52)
(14.12.08)
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 AndreasG meinte dazu am 15.12.08:
Leider ist mir der Ort des nächsten Symposiums nicht bekannt. Etwa ein halbes Jahr vor dem Termin wird dieser Ort bekannt gegeben und in der einschlägigen Zeitschriften-Sparte veröffentlicht (etwa: "Ein Herz für Stiele" oder "Mein schöner Spaten"). In der Fachliteratur wird das Thema schon vorher behandelt, auch sind hier die Kontaktanschriften zu finden. Besonders zu empfehlen: das "Jahrbuch für Kohlfreunde" (das hieß früher: "Jahresschrift für Gemüseliebhaber", aber es gab da gewisse Verwechslungen mit einer Zeitschrift ähnlichen Namens, die zu missverständlichen Werbeanzeigen führten. Also nicht "Fetische für Gemüseliebhaber" kaufen, ja?).
Hat Bad Wirsingfeld denn eine geeignete Spezialisierung der Fakultät Botanik zu bieten? Die Rainer-Darmwind-Universität in Bad Wirsingfeld ist ja bekannt für ihre Feldforschungen im Bereich Bohnen (war da nicht diese tolle Vortragsreihe über Astrophaseologie?), aber zum Thema Kohl fällt mir da kein bekannter Name ein.
Gastredner sind meines Wissens immer willkommen. Einfach mal bewerben.
Joe (52) antwortete darauf am 16.12.08:
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Jack (33) schrieb daraufhin am 06.08.10:
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Googlehupf (55)
(14.12.08)
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 AndreasG äußerte darauf am 15.12.08:
Zum Thema gibt es auch Kurse der Erwachsenenbildung. So kostet ein Wochenendseminar "Bewusstseinserweiterung durch Klangschalen und Spitzkohlpfannen" bei Frau Prof. A. B. Zocke im anthroposophischen Institut Elend keine 1000 €. Gratis dazu gibt es den Bestseller "neue Freunde finden nach einer Kohl-Diät", der im Handel schon lange vergriffen ist.
Interessant könnte für den Interessierten auch das Geruchs- und Hörbuch "die 100 besten Kanalisationen der Welt" sein.
Liebe Grüße,
Andreas

 Isaban (14.12.08)
Kraut' s History.
Vollkommen neue Blickwinkel auf deutsches Gemüse und historische Schadstoffe, ich bin fasziniert!

Liebe Grüße,

Sabine

 AndreasG ergänzte dazu am 15.12.08:
Es ist leider ein völlig vernachlässigter Bereich der Geschichte. Aber das wird sich jetzt hoffentlich ändern.

Liebe Grüße,
Andreas
(Antwort korrigiert am 15.12.2008)

 Theseusel (14.12.08)
Gibt es Fotos oder Bilder zu den Quellen?*ggg*

 AndreasG meinte dazu am 15.12.08:

 Jorge (14.12.08)
Ich hatte unlängst Kontakt mit Zeitzeugen des dreißigjährigen Krieges und bin zutiefst beeindruckt von der wissenschaftlichen Akribie dieses Reports zum durchgeführten Symposium.
Auch in den geheimen staatlichen Archiven Spaniens sowie in der Geheimbibliothek der königlichen Familie finden sich Belege für die Abhängigkeit der modernen Gesellschaft von repollo.
Kann man sich Videomaterial vom Symposium downloaden?

 AndreasG meinte dazu am 15.12.08:
Ja. Auch die Spanier waren sehr fahrlässig mit dem Thema "Kohl in der Geschichte". Man denke nur an die Kämpfe gegen die Mauren oder die Erforschung der Weltmeere; wäre das ohne repollo überhaupt möglich gewesen? Warum wohl waren die spanischen Ritter siegreich gegen die wesentlich fortschrittlicheren Mauren? Na? - Und was trieb wohl Menschen auf zugige Schiffe, durch die ständig eine salzige Meeresbrise weht?
Das Videomaterial ist noch nicht frei gegeben, aber angeblich laufen schon auf yousmell.com einige private Mitschnitte ...

 Marla (16.12.08)
Lieber Andreas!
Das ist ein mehr als angebrachter Bericht zum Thema Bildung/Wissen! Vielen Dank für die Aufklärung. Es ist sehr schade, dass Du allein an diesem Symposium teilgenommen hast. Deine Zusammenfassung ist aber wirklich hilfreich, um nachzuvollziehen wie diese zum Himmel stinkenden Irrtümer endlich aufgedeckt wurden. So bin ich nicht weiter enttäuscht, dass diese Veranstaltung an mir vorbei zog.
Herzlichst,
M. Arla
Expertin zum Thema Unterhaltungsmusik im, während und beim Damentennis
The_black_Death (31)
(21.12.08)
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 ManMan (21.12.08)
A typical 'Krauts'-text, I guess. But we can change, yes, we can!
Barack Obama. And have a nice day!
AronManfeld (43)
(19.08.11)
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