Tiefen

Text

von  GiraffeFolle

Die größte meiner Lügen ist, dass ich dich nicht vermissen würde. Ich sehe mir zu, wie ich durch die Stadt laufe und andauernd aufschrecke: In jedem zweiten Menschen sehe ich dein verdammtes Gesicht. Dieses unendlich perfekte Gesicht, das ich gesehen und gestreichelt und geliebt habe, überall ist es, und nie weiß ich: wenn es wirklich deins wäre, würde ich mich freuen oder weinend weglaufen? In mir öffnen sich riesige Tore, aus denen dein Name herausschreit. Mein Mund sagt immer nur Ja klar, geht schon, ich komm zurecht. Aber was weiß mein Mund. Was weiß meine Vernunft. Was soll diese Lüge, ich hätte ja nicht wissen können. Ich habe den Abschied lange vorher sich anschleichen sehen wie einen Tiger auf leisen Pfoten. Aber loslassen war keine Option. Heute ist zurückfallen keine. Das Leben geht weiter. Ich lebe. Atme den gleichen Atem, der dir bis zum Schluss, bis zum letzten Tag meinen Seelenfrieden ins Ohr gehaucht hat, damit du besser schlafen konntest. Ich lebe. Konsumiere Lesestoff und Essen und Männer. Ich lebe. Aber im Innern, da, wo keiner hinhört, im Bestfall nichtmal ich selbst, gähnt die Tiefe vor sich hin, um die ich tagtäglich heumschleiche, damit ich nicht hineinfalle, und ich frage mich, frage dich, frage die ganze Welt: Wann soll das aufhören? Das Sinnlosleiden, das du weder siehst noch hörst, weil es tief in mir vor sich hinstirbt und dabei kämpft und tritt und beißt wie ein angeschossenes Tier. Bis zu seinem Todesmoment wird es mich verletzen wollen. Wird es mich kratzen, damit ich all meine schönen Illusionen, meine ganze Naivität, mein randvolles Herz aus mir herausblute. Ich warte. Ich lebe. Ich wünsche dem Tier den Tod. Manchmal auch dir. Manchmal auch mir selbst.

5.2.2009
18.30h

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