Matilda.

Kurzgeschichte zum Thema Schein und Sein

von  SunnySchwanbeck

Matilda hat ein altes Gesicht, kantige Züge und viele Falten.
Matilda weiß, dass sie alt aussieht, sie merkt es jeden Tag, wenn sie durch das alltägliche Gedränge schwebt.
Ihr Gang ist jung, ihre Stimme kratzig und rau.
Sie passt im ganzen nicht zu sich selbst, sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut.
Matilda findet sich nicht hübsch, sie ist durchschnittlich, normal. Nur eben ihr Gesicht ist anders.
Es gab mal einen Jungen, den Matilda sehr mochte, Alfred.
Alfred mochte Matilda auch sehr, sie umarmten sich oft und sprachen über Gott und die Welt.
Alfred mochte Matildas Gesicht, er sagte immer, dass er darin Geschichten lesen kann, ungeschriebene, vergessene, manche versteht er nicht, andere versteht er.
Eines Tages lagen sie sich wieder in den Armen, Alfred schaute wie bei jeder Umarmung auf den Boden, er schaute Matilda nie in die Augen. Er sagt ihre Augen seien Wasser, sie sind so schnell, und stark.
"Wasser ist stark, es spült Erde weg, löscht Feuer und kann sogar Eisen zu Bruch bringen." sagte er, Matilda verstand, sie löste sich aus der Umarmung und setzte sich mit ihrem schmutzigen rosa Kleidchen auf den Asphalt.
Alfred stand unberührt neben dem Rosenbusch im Park, starrte auf seine Schuhe, doch er sah sie nicht, er dachte an das Wort 'Wasser'.
Matilda, sagte er, ich kann keine Geschichten mehr lesen.
Matilda schluchzte, sie stand auf, ging auf ihn zu und fuhr mit ihrer rauen Hand immer und immer wieder durch sein fisseliges blonde Haar.
Minuten vergingen, Stunden. Tage, und eines Tages erkannte Matilda, dass es nicht reicht, nur Geschichten zu lesen. Sie verabschiedete sich von Alfred, umarmte ihn, wie damals. Sah ihm in die grauen Augen und verzog ihre runzeligen Lippen zu einem Lächeln.
Das war der Tag an dem sie beschloss auf Reise zu gehen.
Neue Geschichten zu sammeln, die sich zwischen ihre Falten setzen konnten.
Matilda ging lange auf Reise, sehr lange.
Eines Tages sah sie auf einem Trödel einen Spiegel, er war in der Mitte zerborsten, sein Gestell war rostig, doch Matilda kaufte diesen Spiegel, sie fand sich in diesem splittrigen Glas wieder, sie fand sich Hübsch, so in tausend Facetten zersprungen.
Matilda stellte den Spiegel neben ihr Bett, das abgedunkelte Zimmer wird von Lichtstreifen durchzogen, langfingrig ziehen sich die Sonnstrahlen durch die Jalousien.
Matilda liegt auf ihrem Bett, sie beobachtet die Staubpartikelchen, die durch ihr Zimmer fliegen und von den Sonnenstrahlen durchzogen werden.
Ihr Blick fällt auf den Spiegel.
Ihr geht das Sprichwort durch den Kopf, das man 7 Jahre Pech hat, wenn ein Spiegel zerbricht, andererseits, Scherben bringen Glück.
Matilda grübelt, sie bricht sich eine Spiegelscherbe aus dem rostigen Gestell, schaut sie sich genau an und denkt an Alfred.
Alfreds Arme waren das schönste an ihm, fand Matilda. Sie rochen nach Kernseife und hatten ein rosiges Strichmuster.
Alfred hat ihr mal erklärt, dass er diese Muster selbst entworfen hat, nicht mit einem Stift, Alfred war ein Profi, er benutzte Messer. Matilda hatte immer Angst vor Messern, sie sind scharf und riechen komisch. Alfred hatte nie Angst davor neue Muster zu entwerfen.
Einmal hat er Matilda erlaubt dabei zuzusehen, wie er seine Arme verziert. Matilda war erstaunt, wie schnell er die roten Spuren über seine trockene Haut fahren ließ.
Sie half ihm beim letzen Schliff, tupfte überschüssige Flüssigkeit weg, so sagte Alfred.
Verträumt streicht Matilda über ihre unterarme, ihre Arme riechen nach Pfirsich, Mamas Duschgel.
Matilda kuschelt sich in ihre Bettdecke, umklammert die Scherbe immer noch und runzelt die Stirn.
Alfred wollte neue Geschichten lesen, sagt er.
Und mit einem Stift schreibt man Geschichten. Alfred benutzt keine Stifte, er nimmt Messer.
Matilda überlegte, dann erschien ihr alles ganz logisch.
Sie wollte neue Geschichten schreiben, Geschichten, die Alfred von ihrer Haut lesen konnte.
So zog sie das glitzernde Stück Glas über ihre Arme, schrieb Liebesgedichte unter ihre Haut, Geschichten über Alfred. Geschichten über ihre Reise.
Es tat gut, das Wirrwarr im Kopf auf Haut zu bringen, nicht auf Papier, Matilda ist ein Profi, sie nimmt kein Papier, sie nimmt Haut.
Sie fühlte sich groß, erwachsen, so wie Alfred. Sie schrieb fast jeden Tag, immer dann wenn die Staubpartikelchen durch die Luft flogen. Manchmal vergas sie das abtupfen, sie fand es schön zu sehen, wie sich ihre Geschichten bewegten, sagte Alfred nicht immer: Matilda wäre Wasser? Stark, und schnell. So wie ihre Geschichten. Matildas Geschichten waren stark und schnell, ihre Wörter flossen in schneller Sprache über ihre Arme. Das schnelle tröpfeln auf den Holzboden, wenn sie mal wieder vergas abzutupfen, klang wie Applaus.
Und an einem Tag, es war kein besonderer, stand Matilda auf, schritt durch ihr Zimmer, das erfüllt war von tröpfelndem Applaus, schaute sich die Partikelchen in der Luft an. Setze ihren ganz persönlichen Stift an. Und vollendete ihre Geschichte. Für Alfred. Sie wollte wieder wie sein offenes Buch sein, sie nahm sich fest vor am nächsten Tag zu ihm zu gehen und ihm stolz ihre Geschichten zu zeigen, ihre eigenen Muster.
Dann würde sie nicht mehr alt aussehen, dann war sie endlich sein. Dann würde er nie mehr sagen, dass er nichts mehr lesen kann.
Matilda schloss die Augen. Zog ein letztes Mal über die vernarbte Haut. Starrte die tanzenden Staubpartikel an, und floh sich in ihren tröpfelnden Applaus, ein letztes Mal wollte sie die große Autorin sein, ein letztes Mal, für Alfred.

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Kommentare zu diesem Text


 Unbegabt (04.06.09)
so... ich finds schön dass du das mit dem "ritzen" so.. neu gemacht hast, halt das man geschichten aufscheibt, momente einfängt.
nicht immer diese "depri, sie ritzt sich"-sachen sondern das ganze als liebesbeweis.
ich finds sehr schön, weils so spontan, aus dem herzen heraus geschrieben ist.
ich glaube du hast das einfach geschrieben ohne lange an irgendwelchen stellen hängenzubleiben.
es ist einfach sehr flüssig.
ich finds ganz toll.


kuss meine beste ♥
(Kommentar korrigiert am 04.06.2009)

 SunnySchwanbeck meinte dazu am 04.06.09:
danke, danke, danke.
Du weißt ja wie sehr mich das freut :)
wupperzeit (58)
(16.06.09)
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 SunnySchwanbeck antwortete darauf am 16.06.09:
Vielen dank, für alles.
Für die Empfehlung, das aufnehmen in deine Liste.
Und vorallem dafür das dir mein Text gefallen hat, ich war sehr nervös beim lesen.
Aber es freut mich das er dir gefällt.
lg
Sunny.
tausendschön (33)
(18.06.09)
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 SunnySchwanbeck schrieb daraufhin am 18.06.09:
Wow... danke.
Ich hab es garnicht mitbekommen das viele den Text dann doch so gut fanden.
Ich werd aufjedenfall weiter schreiben :)
und Niemand kann mich aufhalten!
lg
Sunny :)
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