Projekt Hydra

Erzählung zum Thema Verrat

von  Mutter

Nachdem ich über eine Stunde ziellos durch die Gegend gelaufen war, mal diesseits, mal jenseits des Ufers, zwischen Kreuzberg und Neukölln wechselnd, halte ich schließlich inne. Stehe auf der Brücke, betrachte die Jogger am rechten Uferstreifen und rotze ins Wasser. Warum gibt es auf der Neuköllner Seite keine Jogger? Die sind zu schwer bepackt mit Plastiktüten aus dem Aldi, nehme ich an.
Fische mein Handy aus der Hosentasche und suche Gabis Eintrag. Es klingelt.
‚Jakob?‘, will er wissen.
‚Ja‘, sage ich wenig geistreich.
‚Du hast mich neulich angerufen‘, stellt er fest. Stimmt. ‚Was gibt’s?‘
‚Können wir uns treffen?‘
‚Klar. Ich habe in einer Viertelstunde einen Klienten. Willst du ins Büro kommen? Könntest du auch mal wieder etwas tun für dein Geld.‘ Er lacht, ich verziehe unwillig das Gesicht. ‚Sicher‘, sage ich. ‚Ich komme rum.‘
Wir beenden das Gespräch, ich mache mich auf den Weg nach Hause, um mein Rad zu holen. Fahre zehn Minuten später über die Oberbaumbrücke.

Er macht mir die Tür mit dem Handy am Ohr auf. Nickt mir zu, geht telefonierend zurück ins Büro. Ich folge ihm.
‚Sicher, ist überhaupt kein Problem.‘ Gabi lacht. Setzt sich an den Schreibtisch, klemmt das Handy mit der Schulter fest, tickert auf der Tastatur. ‚Genau dafür sind wir ja da.‘ Erneut ein Lachen, mit dem er auch Gebrauchtwagen verkaufen könnte.
‚Richtig. Sagen Sie mir einfach Bescheid, dann bereite ich alles vor. In Ordnung? Okay, ich warte auf Ihren Anruf. Bis dann …‘ Er legt auf. ‚Hey Jakob!‘
‚Hey‘, entgegne ich lahm.
‚Kleinen Augenblick noch.‘ Er tickert weiter.
Ich mache es mir auf dem Sofa bequem. ‚Kein Problem, lass dir Zeit.‘
Nach fünf Minuten stellt er die Tastatur beiseite, rollt mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zur Seite, so dass der Tisch nicht mehr zwischen uns steht. Klatscht mit den Händen und sieht mich mit freundlicher Macher-Miene an. ‚Also, was gibt es?‘
Ich habe keine Ahnung, wie ich das Gespräch beginnen soll. Schließlich entscheide ich mich für kurz und schmerzlos. ‚Ich war in der Libauer Straße.‘ Er versteht nicht, wovon ich rede.
‚In der Libauer 23.‘ Jetzt rafft er es. Lehnt sich zurück im Stuhl, betrachtet mich aufmerksam. Er versucht zu ergründen, worum es mir geht. ‚Und?‘
‚Was passiert hier? Ich weiß auch von den anderen Büros. Was ziehst du ab?‘ Ganz kann ich einen leicht schneidenden Tonfall nicht vermeiden.
Er antwortet mit einer Gegenfrage: ‚Worum geht es dir, Jakob? Willst du mehr Geld?‘
Fassungslos sehe ich ihn an. ‚Geld? Quatsch. Mir geht es nicht um die Kohle. Du hintergehst uns. Uns alle – Juri, Stecher, Benz …‘
‚Hast du mit den anderen gesprochen?‘
‚Nein, noch nicht. Doch, mit Juri.‘
‚Was hat er gesagt?‘
Ich zögere. ‚Er meinte, ich solle zuerst mit dir reden.‘
Befriedigt nickt Gabi. ‚Du hast die Buchungen gesehen, oder?‘ Ich bejahe.
‚Dann weißt du auch, dass ich euch nicht hintergangen habe. Die Gewinne sind zu gleichen Portionen an alle Teilhaber gegangen.‘
Ungeduldig nicke ich. ‚Stimmt, aber darum geht es hier nicht‘, sage ich aufgebracht. Habe Angst davor, mich von ihm manipulieren zu lassen.
‚Warum geht es dann, Jakob?‘, will er mit sanfter Stimme wissen.
‚Du … du arbeitest hinter unserem Rücken. Behandelst uns nicht wie Partner.‘ Selbst in meinen Ohren klingt das ungelenk und leicht kindisch.
Er lächelt. ‚Das spielt doch keine Rolle. In den anderen Büros läuft nichts, was nicht auch hier passieren würde.‘ Seine ausgestreckten Arme umfassen das spärliche Büro. ‚Alles koscher.‘
Die Haustür klingelt. ‚Du entschuldigst mich?‘, fragt er und steht auf.
Müde lasse ich mich nach hinten sinken, verschränke die Arme hinter dem Kopf.
‚Kommen Sie herein‘, höre ich Gabi sagen. Er taucht in der Tür auf, hinter ihm zwei Kerle in Anzügen. ‚Das hier ist mein Partner Jakob Herfeld. Er kümmert sich vor allem um unsere Crew und alles, was mit Logistik zu tun hat.‘
Ich stemme mich aus den Polstern hoch, um den beiden Mittvierzigern die Hände zu schütteln. Beide sehen nach Machern aus, haben einen festen Händedruck. Der eine ist offenbar auf der Sonnenbank eingeschlafen – seine Haut sieht ungesund und faltig aus. Sie stellen sich als Lehmann und Graupner vor. Lehmann ist der Broiler.
‚Setzen Sie sich doch.‘ Er bietet ihnen zwei Stühle vor seinem Schreibtisch an. ‚Bitte entschuldigen Sie unsere Räumlichkeiten.‘ Die beiden mustern das karge Büro unverhohlen. Gabi lacht. ‚Aber moderne Büros im Nikolaiviertel transportieren nicht die gleiche … sagen wir: Authentizität.‘ Die beiden nicken, schürzen die Lippen. Das leuchtet ein.
‚Sie haben vorab gesagt, es geht um eine kleine Gruppe?‘
Lehmann nickt, reißt sich von unserem Interieur los und widmet seine ganze Aufmerksamkeit Gabi. ‚Drei von unseren Kunden kommen aus Belgien nach Berlin. Nächsten Monat. Am …?‘ Er dreht sich zu seinem Partner um. Gabi winkt ab – zu diesem Zeitpunkt der Verhandlungen nicht wichtig. Lehmann insistiert, berührt seinen noch abgelenkten Begleiter ungeduldig am Arm. Graupner wirft mir einen letzten Blick zu, konzentriert sich dann ebenfalls. ‚Am 21.‘, sagt er ohne zu zögern.
Gabi nickt, macht Einträge am Computer. ‚Wie lange bleiben Ihre Klienten?‘
‚Vier Tage – verlängertes Wochenende.‘
‚In Ordnung, also ein relativ enges Zeitfenster. Und Sie möchten für einen der drei buchen?‘
Graupner schüttelt den Kopf. ‚Für alle drei.‘
Gabi zögert einen Augenblick. ‚Die Herren werden aber vermutlich zusammen unterwegs sein?‘
Lehmann nickt. ‚Ist das ein Problem?‘
Gabi lächelt, hebt die Hände. ‚Es gibt keine Probleme, es gibt nur Herausforderungen.‘ Graupner und Lehmann lachen, ich rolle mit den Augen. Gabi wirft mir einen kurzen Blick zu, warnt mich.
‚Normalerweise arrangieren wir für unsere Klienten einzelne Begegnungen. Die dafür umso intensiver sind.‘ Die beiden Anzugträger nicken. Gabi fährt fort: ‚Aber ich denke, es sollte kein Problem sein, in Ihrem Fall eine Gruppe von dreien unserer Leute einzusetzen und das Ganze so zu gestalten, dass niemand zu kurz kommt.‘
Graupner nickt befriedigt.
‚Ich nehme an, Sie werden Ihren Geschäftspartnern mitteilen, dass das ein geplantes Event ist?‘
‚Nach der Aktion, ja.‘
‚Normalerweise ist der Kick bei unseren Events natürlich bedeutend größer, wenn der Kunde nicht erfährt, dass es sich  um eine gebuchte Aktion handelt. Aber in Ihrem Fall verstehe ich natürlich, dass Sie, um einen Nutzen daraus zu ziehen, Ihren Partner erzählen müssen, dass Sie verantwortlich sind. Diesmal nicken beide.
‚Wie sieht es preislich aus?‘, will Lehmann wissen.
Gabi wiegt ein wenig den Kopf hin und her, starrt konzentriert auf den Bildschirm, klackt mit der Tastatur. ‚Ich  könnte Ihnen einen Paketpreis für siebeneinhalb Tausend anbieten.‘
Meine Augen werden groß. Normalerweise nehmen wir, je nach Klient und Umstand, um die tausend.
Lehmann schüttelt den Kopf. ‚Ich verstehe, dass das hier etwas Besonderes ist. Aber nicht siebeneinhalb Tausend besonders.‘ Er scheint durch Gabis Keckheit nicht verärgert, lächelt milde.
‚Wir bieten Ihnen viertausend‘, schlägt Graupner vor. Ich weiß jetzt schon, dass sie sich auf fünf einigen werden.
Das tun sie – zehn Minuten später expediert Gabi die beiden aus dem Büro. Er hat ihnen Umschläge mitgegeben, welche Informationen wir von den Klienten vor dem Event brauchen – Portraitfotos, ein Fact-Sheet mit zusätzlichen Informationen wie Körpergröße, Gewicht, Blutgruppe und nächsten Verwandten. Die beiden versprechen, alles innerhalb einer Woche per Mail zuliefern.
Gabi taucht wieder im Durchgang zum Wohnzimmer auf. ‚Tee?‘, will er wissen. Ich nicke. Wir schinden beide Zeit, nehme ich an.
Ein paar Minuten später ist er zurück, drückt mir eine heiße Tasse in die Hand.
‚Warum?‘, will ich wissen, nachdem ich mehrmals auf mein Getränk gepustet habe. ‚Wenn es dir nicht um das zusätzliche Geld geht – warum hast du es dann gemacht?‘
Gabi hat sich auf die Kante des Schreibtisches gesetzt, trinkt unerschrocken den zu heißen Tee. ‚Terroristische Zellen arbeiten unerkannt voneinander. Keiner weiß etwas vom anderen. Zur eigenen Sicherheit.‘ Entwaffnend hebt er den Tee in der Rechten und die freie Linke.
‚Terroristen? Bist du bekloppt? Wir sind doch keine Zellen aus Selbstmordattentätern.‘
Er lächelt, als wäre ich derjenige, der einen völlig abwegigen Vergleich herangezogen hätte.
‚Weißt du, wie ich das Ganze genannt habe, Jakob?‘ Er wartet nicht darauf, dass ich antworte. Warum auch. ‚Projekt Hydra. Schlag einen Kopf ab – und die Hydra lebt weiter. Regeneriert sich. So einfach ist das.‘
‚Du hast einen Knall.‘ Erhebe mich von dem Sofa. Ich bin nicht sicher, ob es Sinn macht, weiter mit ihm darüber zu reden.
‚Unsere Agentur ist vom Fight Club inspiriert, Jakob. Denk an Project Chaos. Niemand weiß etwas vom anderen. Die Linke nicht von der Rechten. Das hat alles System.‘
Ich sehe ihn an, bin fassungslos.
Seine Stimme wird schärfer. ‚Rede mit den anderen. Frag sie, ob es ihnen etwas ausmacht. Ich bin Herz, Leber und Gehirn dieses ganzen Unternehmens.‘ Schneidend scharf. ‚Und bis jetzt war es euch scheißegal, wie ich das aufziehe, solange eure Umschläge prall gefüllt bleiben. Ich habe vor, das weiterhin beizubehalten.‘ Er erhebt sich vom Schreibtisch, folgt mir in Richtung Flur. ‚Aber komm‘ mir dabei nicht die Quere, Jakob – hast du verstanden? Hör auf, rumzustänkern und Unruhe zu verbreiten‘, warnt er mich. Ich nicke nur müde – weniger in aufrichtiger Folgsamkeit als vielmehr in einer Ja, ja, leck mich am Arsch-Mentalität. Ich habe das Gefühl, mit Gabi bin ich durch.
Hinter mir schließt der die Wohnungstür mit einem trockenen Knacken.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(09.02.10)
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 Mutter meinte dazu am 09.02.10:
Iss jetzt runder ... :)

Danke.
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