Gedanken zum neuentdeckten Lied der Sappho

Essay zum Thema Sprache/ Sprachen

von  Roger-Bôtan

Das vor einigen Jahren auf Papyrusfetzen gefundene und zusammengeflickte in äolischem Dialekt verfasste und mit Ende des 7. Jrhd. v. u. Z. datierte Gedicht Sapphos besteht aus 12 Zeilen. Am interessantesten ist die 10. Zeile, weil dort ein Wort fehlt, das man nicht wiederherzustellen vermag.
Achtung, Leute, ich bin jetzt gerade im Begriff, die Lücke im 10. Vers des genannten Liedes zu schließen. Ich schlüge vor, in

ἔρωι φ..αθεισαν βάμεν’ εἰς  ἔσχατα γᾶς φέροισαν


das unklare φ..αθεισαν durch φλεγέθοισαν ‘die brennende’ zu ersetzen, das sowohl metrisch wie auch begrifflich darein passt. Das Metrum sieht nämlich folgendermaßen aus:

  ͞ᴗ │— ᴗᴗ — │— ᴗᴗ — │— ᴗᴗ — │ ᴗ —  ͞ᴗ

Das schwierige φ..αθεισαν  ist offensichtlich eine falsche Lesung: Vor dem Suffix des passiven Aoristpartizipiums -θεισ-  kann kein langes stehen: das Metrum schließt das aus.
    Ab nun kann endlich jeder Äolischsprecher den vollständigen Text des Gedichts lesen, skandieren und genießen:

῎Υμμες  πεδὰ Μοίσαν ἰοκόλπων κάλα δῶρα, παῖδες,
σπουδάσδετε καὶ τὰν φιλάοιδον λιγύραν χελύνναν·
ἔμοι δ’ἄπαλον πρίν ποτ’ ἔοντα χρόα γῆρας ἤδη             
ἐπέλλαβε, λεῦκαι δ’ἐγένοντο τρίχες ἐκ μελαίναν·
βάρυς δέ μ’ὀ θῦμος πεπόηται, γόνα δ’οὐ φέροισι,
τὰ δή ποτα λαίψηρ’ ἔον ὄρχησθ’ ἴσα νεβρίοισι.   
τὰ μὲν στεναχίσδω θαμέως· ἀλλὰ τί κεν ποείην;
ἀγήραον ἄνθρωπον ἔοντ’ οὐ δύνατον γένεσθαι.   
καὶ γάρ ποτα Τίθωνον ἔφαντο βροδόπαχυν Αὔων
ἔρωι φλεγέθοισαν βάμεν’ εἰς  ἔσχατα γᾶς φέροισαν,
ἔοντα κάλον καὶ νέον, ἀλλ’ αὖτον ὔμως ἔμαρψε   
χρόνωι πόλιον γῆρας, ἔχοντ’ ἀθανάταν ἄκοιτιν.
 

Ach ja, ich vergaß beinahe das, was die meisten Leserinnen und Leser fürs Allerwichtigste halten — den Inhalt, d. h. die Übersetzung. Auf die Metrik pfeift man heutzutage: Wir leben im Prosazeitalter. Man glaubt, dass ein von Reimen und Versmaß befreites Gedicht den Sinn getreuer widergibt. Na, was soll ich dazu sagen? Habe schon Hunderte Prosagedichte gelesen, die nicht mehr Sinn ergeben als die gereimten… Aber was sollʼs, da habt ihr meine Übersetzung:

„Mädchen, ihr eilt zu den mit Veilchen geschmückten Gaben der Musen und den wohlklingenden helltönigen Leiern! Aber meinen ehemals zarten Körper schon ergriff das hohe Alter und die schwarzen Haare wurden weiß. Mein Geist ist schwer geworden und meine Knie, die früher wie Hirschkälber im Tanze beweglich gewesen waren, tragen mich nicht. Das beklage ich öfters, aber was kann ich dagegen tun? Es kann keinen nie alternden Menschen geben. Denn man überliefert, dass einstmals die rosenarmige Eos, liebesentbrannt, trug Tithonos, der schön und jung war, ans Ende der Welt; aber auch ihn, eine unsterbliche Ehegattin habenden, ergriff im Laufe der Zeit das Greisenalter.“  

Das wär’s…

Nein.

Noch eine dreckige Bemerkung: Zum Eigennamen Tithonos. Man hat ihn schon verschiedentlich gedeutet, die eine Deutung blöder als die andere. Die Lösung des Rätsels, wie es so oft der Fall ist, liegt auf der Hand — auf meiner Hand in diesem Fall, und nun auch hier auf diesem Bildschirm: Τιθωνός heißt einfach ‘der Sterbende’ und lässt sich auf ein *θι-θϝων-ος zurückführen — eine Bildung mit Verdoppelung des anlautenden Konsonanten, wobei die Länge des ι in der ersten Silbe eine Ersatzdehnung sein könnte, d. h. der Vokal verlängerte sich durch den Schwund des Digamma ϝ (hört sich wie engl. w an). Ansonsten ist die Stammform -θϝων- nichts anderes als eine Ablautvariante des Stammes, den wir in θάνατος ‘der Tod’ (< *θϝάνατος) und θνάσκω ‘ich sterbe’ (< *θϝνᾱσκω) vorfinden.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (08.01.20)
"schlüge"? Konjunktiv II ? Hossa!

 Roger-Bôtan meinte dazu am 11.01.20:
Verstünde man es besser, wenn der Satz im Indikativ stünde?

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 13.01.20:
Nein, ich wollte bloß meiner Begeisterung Ausdruck verschaffen!

 Graeculus (08.01.20)
Oh, oh, eine solche Perle bei kV!

 Roger-Bôtan schrieb daraufhin am 11.01.20:
Bloß ein Vorschlag, nix Besonderes.
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