Überfall

Text zum Thema Verarbeitung/ Verdrängung

von  Sanchina

Überfall

Die kleine Straße, die zum Stadtteilbahnhof führt, geht gleich da vorne nach rechts ab. Der Zug fährt um 10.33 Uhr. Ich möchte den Wochenmarkt in der Innenstadt besuchen.

Die grauen Würfel am Ende der Straße sind die Bahnhofsgebäude. Ich gehe an Einfamilienhäusern vorbei, an Gärten, an dem unbebauten Grundstück, auf dem seit einem Jahr ein Schild „zu verkaufen“ steht. Der Vorort verschläft den Vormittag.

Da plötzlich tritt der Mann aus dem Gebüsch. Er hält ein Messer in der Hand. Ohne ein einziges Wort zu sprechen greift er an. Ich spüre den Stich in meinem Hals, der mich tötet.

Und jetzt stehe ich wieder hier an dieser Stelle, ein Jahr später, ein Jahr älter. Der Zug fährt um 10.33 Uhr. Ich möchte den Markt in der Innenstadt besuchen.

Ich nähere mich dem Gebüsch. Kein Mann tritt hervor. Niemand greift mich an.

Doch meine Beine versagen ihren Dienst. Ich bleibe wie jäh angewurzelt stehen, starre auf das Gebüsch. Ich habe die Stimme meiner Mutter noch im Ohr, die vorhin gesagt hat: „Der Mann ist verurteilt worden. Er sitzt im Gefängnis.“

Ich habe nicht die Kraft, an dem Gebüsch vorbei zu gehen. Ich starre in das dunkelgrüne Blattwerk.

„Stich ihm mit gespreizten Fingern in die Augen!“ sagt die Stimme des Trainers. Ich versuche, den Arm zu heben. Es geht nicht.

„Flieh, so lang du fliehen kannst!“ meint eine andere Stimme. Wurzeln halten mich auf der Stelle fest.

Ein Flugzeug erscheint am Himmel. Im Landeanflug hängt es schon tief unter den Wolken. Der Lärm kommt näher. Ich denke an Krieg und Luftangriff. Der Lärm ist jetzt direkt über mir.

Ein Insekt fliegt mir mitten ins Gesicht. In diesem Moment entreißt mein Wurzelballen sich mit Macht dem Asphalt und ich stürze wie vom Teufel verfolgt zum Straßenanfang. Fliehe, fliehe.

Keuchend komme ich zu Hause an. „Ich bin angegriffen worden!“ schreie ich.

Meine Mutter kommt ins Treppenhaus. Sie löst meine Finger vom Geländer, an das ich mich klammere.

„Bist du verletzt?“ fragt sie besorgt.

Ebenso gut hätte sie mich fragen können, ob ich lebe.

Nein! Ich lebe nicht! Ich bin doch ermordet worden vor einem Jahr! Seitdem lebe ich nicht mehr. Begreift sie das denn nicht?

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Kommentare zu diesem Text

DerAutor (42)
(20.11.10)
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 Sanchina meinte dazu am 20.11.10:
boah, bist du schnell!
DerAutor (42) antwortete darauf am 20.11.10:
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 princess (20.11.10)
Was zu viel ist, innen drin, das ist zu viel.
Egal, wie es von außen betrachtet aussieht.
Gut sichtbar gemacht, das innen drin.
Lieber Gruß, Ira

 Sanchina schrieb daraufhin am 20.11.10:
danke!
SigrunAl-Badri (52)
(20.11.10)
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 AZU20 (21.11.10)
Sehr intensive Schilderung. LG in den Sonntag
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