Es ist Ende September, der Sommer ist dieses Jahr besonders lang. Und heiß.
Ich bin zu Besuch bei Oma, sie heißt Grete und ist alt. Wie die Zeit Spuren hinterlässt, erkennt man erst, wenn man jemanden lange nicht gesehen hat. Tiefe Furchen durchziehen die immer noch dunkle und sommerbraune Haut und in ihren Augen liegt Müdigkeit und Sehnsucht. Sehnsucht, jedes mal wenn sie mich ansieht. Vielleicht sehnt sie sich nach dem Jungsein, nach ihrer Jugend.
Als ich sie das letzte Mal besucht hatte, war Opa noch am Leben gewesen, ein kleiner, stämmiger Mann – ich erinnere mich kaum an ihn, es ist fast sechs Jahre her und ich erkenne ihn auf Fotos aber wenn ich an ihn denke, dann hat er keine klare Gestalt mehr. Er hat gemalt, Kunstwerke die ich als kleines Kind immer mit bewundernden Augen angesehen habe. Es sind Bilder von Wäldern meistens, weil er dort Rehe malen konnte, Rehe haben ihn angezogen und bestimmt noch viel mehr die Hirsche, die auf jedem Bild im Zentrum stehen. Goldbraunes Fell aus unterschiedlichen Nuancen jener Ölfarbe, die einen Menschen so lange überleben kann. Oma Grete spricht nicht oft von ihm, vielleicht ist er auch schon in ihren Erinnerungen zu einem Teil eines anderen Lebens geworden. Sie erzählt überhaupt wenig, meistens redet sie von ihren Kindern. Oder von ihrer Kindheit, die sie auf dem Land verbracht hat, nicht auf einem Bauernhof, ihr Vater war Bäcker gewesen, und es war eine Kindheit, die von einem Geist erfüllt war, den ich nie kennen werde.
Oma Grete sitzt am Tisch, sie trägt keine Brille, sie meint, sie sieht auch so noch alles, doch als sie in einer Illustrierten blättert, kneift sie das eine Auge fest zusammen und das andere bewegt sich nur langsam. Ich stehe auf, der Teller von dem ich gerade gegessen habe steht noch vor mir – Ich lasse ihn stehen, weil ich weiß, dass Oma Grete will, das ich ihn stehen lasse. Ich gehe aus dem Zimmer in den angenehm kühlen Flur. An der Wand ein Bild, eine Lichtung auf der sich ein Rudel Rehe um einen Hirsch sammelt, dessen dunkles Geweih riesig und verästelt ist. Ich gehe auf den Balkon. Das ist kaum mehr als ein kleiner Zementkasten an der Seite des zweiten Stocks eines Hochhauses in der Vorstadt. Grau und nackt wirkt das Gebäude, die Wände sind unverputzt. Ich setze mich auf die Zementmauer und lasse die Beine baumeln. Würde Oma mich so sehen, bekäme sie bestimmt einen Schreck aber ich weiß, dass schon nichts passieren wird, während Oma Grete weiterhin drinnen ihre Illustrierte durchblättert und sich bestimmt die kleine Brille aufgesetzt hat, die immer im Etui unter den Zeitungspacken versteckt liegt.
Ich denke darüber nach, wie es sich anfühlen muss, alt zu sein und seine Enkel zu betrachten, stelle aber fest, dass mir das nicht gelingen will. Man wird sich ausgeschlossen fühlen, irgendwie, vielleicht sogar eifersüchtig. Ich erinnere mich an das Sehnen in ihren Augen und die Sonne brennt auf meine nackten Beine. Es liegt ein Geruch in der Luft der sich aus Verwesendem und schmelzenden Teer zusammensetzt, es ist der Geruch der so typisch für diese Zementviertel an heißen Tagen ist, deren Vorgärten asphaltierte Flächen mit rostenden Eisenstangen zum Wäschetrocknen sind. Asphaltgärten, Zementbäume und ich denke an die Bilder von Wiesen und Lichtungen in der Wohnung und an die Kindheit von Oma Grete auf dem Land, wo es Kühe gab und weite Felder. Irgendwo im hitzeflimmernden Jenseits gurrt eine Taube, auf dem Land hatte es Nachtigallen gegeben, hat Oma erzählt.
Einmal hab ich gesagt, dass damals, bei ihr auf dem Land, wohl Taubendreck nicht zu den wirklich wichtigen Problemen gehörte und sie hat gelacht. Nein, hat sie gesagt, aber wir hatten Mauersegler und Schwalben die unter der Dachschräge genistet haben, die haben auch Dreck gemacht. Aber ein Problem ist es nie gewesen. Vielleicht bin sogar ich ein wenig eifersüchtig auf sie, einfach weil sie eine andere Jugend hatte als ich, eine die ich mir gerade, in der prallen Sonne auf einem Balkon im Zementpark sitzend, romantisch auszumalen beginne, und trotzdem glaube, dass es so perfekt gar nicht gewesen sein kann. Aber dieses seltsame Gefühl der Sehnsucht steckt weiterhin in meinem Magen. Unter mir geht ein Mädchen vorbei, sie sieht kurz zu mir auf, ich winke und sie winkt zurück. Und mir wird klar, dass „seltsam“ der vermutlich beste Ausdruck ist um Leben zu umschreiben. Ich denke, dass wir immer nur das bleiben was wir sind: Zaungäste, die an der Sperre zur Realität stehen und hoffen, das ein paar Klangfetzen von der Wirklichkeit zu ihnen herüber dringen. Von jenem universalen Rockkonzert, wo alles wirklich wirklich wichtig ist. Nicht so wichtig wie Taubendreck oder Mauersegler, sondern echt wichtig.
Unten hat gerade ein Mann, vielleicht der Vater des Mädchens, das mir eben gewunken hat, ein kleines Planschbecken aus einer der Garagen in den Hof gezerrt und es mit einer Luftpumpe aufzublasen begonnen. Bald wird der erfrischende Geruch von kaltem Wasser zu mir hoch ziehen und die Sonne wird sich an meinen Beinen nicht mehr so heiß anfühlen. Das Mädchen kommt jetzt wieder, sie hat einen Hulla-Hup-Reifen um ihre Hüften. Ihr kleines Kleid fliegt und ich überlege, ob ich nicht gerade doch ein wenig verstehe, wie sich Oma fühlt.
Der Vater des Mädchens schwitzt sichtlich, dem Mädchen scheint die Hitze nichts auszumachen, sie lacht und singt. Dann sieht sie wieder zu mir hoch und bemerkt, das ich sie noch beobachte. Sofort hört sie auf zu singen, aber lachen kann sie weiterhin. Ein weiterer Zaungast, denke ich und lächle.
Das Mädchen zieht sich aus und springt ins gefüllte Planschbecken, und ich wünsche mir auch wieder unbekümmert nackt in ein Planschbecken springen zu dürfen.
Als ich aufstehe ist es schon abend. Oma sitzt immer noch da, auf der Couch und hat ihre Zeitung in der Hand.
Wenn ich morgen heimfahre, werde ich an das Mädchen denken und an Oma Gretes sehnsuchtsvollen Blick. Ich werde vielleicht lange nicht wiederkommen, aber einmal noch komme ich ganz gewiss wieder her.