Den Holzweg verlassen

Text

von  Rollsen

Oberregierungsrat Gerald war unterwegs, um sich die Sache mit eigenen Augen anzusehen. Anfangs hatte er gedacht, die Frau aus dem Katasteramt hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, doch das, was er von ihr und den zuständigen Förstern erfahren hatte, ließ ihn aufhorchen. Frau Meier, die Leiterin des Katasteramtes hatte ihm erzählt, dass Mitarbeitern von ihr nach routinemäßigen Vermessungen Veränderungen an den regionalen Waldbeständen aufgefallen waren. Waldflächen – von zwar noch relativ kleinen Waldstücken, aber dennoch mehreren Dutzend Hektar Ausdehnung – verschwanden. Das gaben die Satellitenbilder und aktualisierten Flurkarten her. Gründe mochte es dafür viele geben: illegaler Abbau von Bäumen oder eine Baumkrankheit vielleicht. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass auf der gegenüberliegenden Seite unerklärlicherweise immer mehr Bäume hinzu kamen; augenscheinlich verschwanden die Bäume im Süden, hingegen entstanden im Norden neue Baumgruppen. Das und die Zusammenfassung der Satellitenbilder der letzten Jahre ergaben ein seltsames Bild, nämlich einen nach Norden wandernden Wald – alles völlig natürlich und ohne Zutun des Menschen, wie ihm der Förster bestätigte. In den letzten Jahren waren mehrere Waldstücke an verschiedenen Orten geradezu von ihrem ursprünglichen Ort "weggewandert". Schon kursierten abenteuerliche Gerüchte in den Forstrevieren und sogar in Geralds eigener Abteilung im Landwirtschaftsministerium: angeblich hätte der Wald „keine Lust mehr“ und wollte aufbrechen, um sich „ein besseres Plätzchen“ zu suchen. Gerald hatte sich den ursprünglichen Startpunkt der "Wanderung" angesehen: ein Gebiet bis auf die nördliche Seite umrahmt von einer Autobahn, einer Mülldeponie, einem alten Kohlekraftwerk und menschlichen Siedlungen, so dass er fast geneigt war, der Gerüchteküche recht zu geben. Aber Oberregierungsrat Gerald war in erster Hinsicht analytisch veranlagt und Realist. „Wandernde Bäume, was für ein Quatsch!“, dachte er und fuhr weiter auf der Landstraße nach Norden. Er wusste zwar nicht, warum sich der Wald so komisch veränderte – Bäume verschwinden schließlich nicht so einfach und tauchen an anderer Stelle wieder auf – doch musste es einen stichhaltigen Grund dafür geben und den wollte er jetzt in Erfahrung bringen. Er fuhr etwas weiter nördlicher als der Wald lag, stieg aus seinem Geländewagen und ging einen kleinen Hügel hoch, von dem er die Gegend besser überblicken konnte. Was er dort sah, verschlug ihm die Sprache.

Zwei Jahre später saß Frau Meier in einem nüchtern eingerichteten Büro im Landwirtschaftsministerium. Ihr Gegenüber, Regierungsrat Schulze, blickte sie über den Rand seiner Brille verständnislos an. "Sie müssen verstehen, als mein Vorgänger kündigte, kam dies für uns alle sehr überraschend. Er hat keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen und sich geweigert, seine unerledigten Amtsgeschäfte zu übergeben oder Protokolle darüber anzufertigen, darum weiß ich nicht, was genau Sie meinen. Um welchen Wald geht es denn?"
Frau Meier begegnete dem Blick mit stoischer Ruhe. "Es geht um den kleinen und den großen Hinterlandwald. Nördlich von Oberstadt"Sie legte ihm ein Satellitenbild vor und zeigte auf die Stelle. "Mhm, aber dort sehe ich keine Wälder", sagte RR Schulze. "Sie sind ein schlauer Mann", sagte Frau Meier.


Anmerkung von Rollsen:

Das war mein Beitrag zu dem Literaturwettbewerb zum Thema "Wald" auf www.schreibschon.de im September 2011. Gewonnen habe ich nüschte, deswegen stelle ich den Text jetzt hier online.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram