Die oberste Instanz

Text

von  MrDurden

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Jeder Tag ist gleich. Ist jeder Tag gleich? Frühstück. Jeder Bereich des Lebens lässt sich in Instanzen einteilen. Verdammte Scheiße. Andere Menschen, normale Menschen, denken beim Frühstück an das Verhältnis Tequila zu Bier während des allabendlichen Saufrituals in der lokalen Disko oder einfach an den faden, breiigen Geschmack der Cornflakespampe zwischen ihren vollzeitbeschäftigten Speicheldrüsen. Ich denke an die Einteilung menschlicher Lebensbereiche in Instanzen. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, bin der Welt und mir selbst fremd geworden.

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Kein Tag ist wie der andere. Frühstück. Schicksal und Zufall schließen einander aus, und doch koexistieren sie. Ich finde es dumm und naiv an etwas wie das Schicksal zu glauben. Unbegründeter, spiritueller Gedankenmüll. Von abgehobenen Naivlingen entwickelt, um andere abgehobene Naivlinge in den finanziellen Ruin zu treiben. Schicksal und Zufall beschäftigen mich Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich bin geradezu besessen davon, Ursachen für alle Geschehnisse in meinem Leben zu finden. Verliere ich den Verstand? Hat die Baubranche mit mir einen weiteren kleinen Stift in den Wahnsinn getrieben? Irgendetwas stimmt nicht mit mir, bin der Welt und mir selbst fremd geworden.

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Noch immer beschäftigen mich Instanzen. Frühstück. Alles erscheint mir abgestuft, eingeteilt in Instanzen. Justiz. Finanzmärkte. Unternehmensvorstände. Sogar die stufige Frisur unserer neuen Mitschülerin scheint einem Instanzensystem zu unterliegen. Es gibt kaum etwas Selteneres als eine Frau im praktischen Bereich der Baubranche. Höchstens fünfzehn Jahre alt. Ich gaffe. Sabbere in Gedanken meine Speicheldrüsen leer und dürr. Gebe niederen Gehirnregionen höhere Priorität. Instanzensystem. Selbstekel. Konzentrier dich. Frühstück. Cornflakes. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, bin der Welt und mir selbst fremd geworden.

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Das Schicksal ist ein Instanzensystem. Der Zufall ist es nicht. Frühstück. Das Schicksalsprinzip besagt, dass jede meiner Entscheidungen und alle Ereignisse meines Lebens von einer höheren Instanz vorgegeben sind. Sei tolerant. Sei offen. Nein, verdammt nochmal! Ich hasse diesen esoterischen Scheiß. Ausgeprägtes Autoritätsproblem. Wer lässt sich sein scheiß Leben schon gerne vorschreiben? Und dann noch von einer unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Macht, die jeden Schritt und jeden noch so sinnlosen Scheiß kontrolliert? Nein! Eigenverantwortung! Selbstkontrolle! Zufällige Ereignisse! Kausalität! Flipp jetzt nicht aus. Konzentrier dich. Fünfzehnjähriges Mädchen. Hör auf zu gaffen. Kinnlade hochfahren. Speichelfluss herunterfahren. Frühstück. Cornflakes. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, bin der Welt und mir selbst fremd geworden.

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Ich glaube an Zufall, Chaos und den Wert von Eigeninitiative. Frühstück. Sicher bin ich mir aber nicht. Sitzt irgendwo im Himalaya in irgendeiner tibetanischen Berghöhle ein abgemagerter, bärtiger, zu leicht bekleideter Greis und schreibt an einem übermäßig dicken Buch mit dem Titel „Das Leben des kleinen Stifts der Berufsschule Neustadt“? Warum sollte dieser Greis mein Leben vorbestimmen und welche noch höhere Instanz würde ihn mit welchem Geld dafür bezahlen? Verwirrung. Frühstück. Handyklingeln.

„Sie ist heute Nacht gestorben.“

Schicksal und Zufall schließen einander aus, doch sie koexistieren. Sie haben Gemeinsamkeiten. Sie verbindet, dass niemand sie jemals nachweisen kann. Sie beide fordern meinen Glauben und niemand außer einem scheiß Agnostiker kann zu beiden stehen, beide akzeptieren. Doch vielleicht ist genau diese Dualität aller Dinge die Antwort.

Früher Morgen. Berufsschulkantine. Es ist zu früh, mich für immer von dir zu verabschieden. Vielleicht ist es die oberste Instanz des Schicksals, die dich mir wegnimmt. Vielleicht ist es der Zufall. Doch wahrscheinlich ist es die Dualität aller Dinge. Wahrscheinlich ist es von beidem ein wenig.


Anmerkung von MrDurden:

Heutige Version meines Textes "Er".

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Kommentare zu diesem Text

MarieM (55)
(07.09.12)
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 MrDurden meinte dazu am 07.09.12:
Freue mich sehr über deine Interpretation und deine Empfehlungen. Wünsch dir ein schönes Wochenende! David
fragilfluegelig (49)
(07.09.12)
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 MrDurden antwortete darauf am 07.09.12:
Die oberste Instanz als "jeder für sich selbst" ordne ich unter "Zufall" ein. Darunter verstehe ich, dass das Leben chaotisch verläuft, unwillkürlich, dass Dinge ohne Grund geschehen und man Eigenverantwortung übernehmen muss, um sich in diesem Chaos zurechtzufinden.

Ich persönlich bin heute auch viel weiter als damals. An sowas knabbert man sein Leben lang, aber ich seh es nicht mehr so kindlich wie vor vier Jahren.

Wie immer vielen Dank für Kommentar und Empfehlung, freue mich immer sehr Grüße, David.

 autoralexanderschwarz (07.09.12)
Wirklich gut geschrieben, wobei ich - ganz subjektiv - das Ende als plump empfinde, da es allem wieder Kausalität bzw. eine Erklärung gibt. Bis zu diesem Punkt ist es ja - denke ich - die "wahnsinnige Banalität" des Alltags, dann irgendwie nur noch die individuelle Verhandlung eines Schicksalsschlages. Ungeachtet dessen gut.

 MrDurden schrieb daraufhin am 07.09.12:
Möglich, dass der Anfang gut geschrieben ist. Dieser ganze anfängliche Quatsch läuft aber genau auf diese letzte Sinnlosigkeit hinaus. Der Text ist ein Versuch, Ereignisse zu erklären, für die es keine Erklärung gibt. Ohne dieses "plumpe Ende" gäbe es keinen Erklärungsversuch.

Ohne diese sinnlosen Grausamkeiten des Schicksals oder des Zufalls oder was weiß ich, wie dieser Scheiß zustande kommt, würde sich keine Sau Gedanken um irgendwas machen. Es wäre alles nur ein scheiß nichtssagender, plumper, banaler und doch gut geschriebener Alptraum, der uns niemals die Chance gäbe, uns über diesen ganzen alltäglichen Müll tiefgreifende Gedanken zu machen.

Ich will hier nicht rumlabern, nur sagen, dass dieses plumpe Ende viel bedeutender ist, als das ganze vorangehende theoretische Frühstücksgelaber. Trotzdem freue ich mich, dass es dir gefällt
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