Interpretation des Gedichts "Klarheit ohne Muße" von Antonio Gamoneda

Interpretation

von  Diablesse

Klarheit ohne Muße (Antonio Gamoneda)

Ich sah Lavendel in einen Tränentrog getaucht, und in mir entflammte das Tränenbild.

Sieche Schlangen sah ich jenseits des Regens – schön in ihren gläsernen Geschwüren –, Früchte, bedroht von Dornen und Schatten, vom Tau erregte Gräser. Ich sah eine sterbende Nachtigall und ihre Kehle voll Licht.

Ich träume das Leben, und es ist ein gepeinigter Garten. Vor mir im Taumel ergraute Mütter, die vorbeiziehn.

Mein Denken ist älter als die Ewigkeit, doch es gibt keine Ewigkeit. Meine Jugend vertat ich vor einem leeren Grab, erschöpfte mich in Fragen, die noch nachhallen in mir wie der traurige Galopp eines Pferdes in der Erinnerung.

Noch kreise ich in mir selbst, wenngleich ich weiß, ich werde in meines eigenen Herzens Kälte fallen.

Das ist das Alter: Klarheit ohne Muße.




In der fiktiven Welt des Gedichts „Klarheit ohne Muße“ von Antonio Gamoneda betreibt ein lyrisches Subjekt, erkenntlich am Personalpronomen der ersten Person Singular zu Beginn des ersten Absatzes, Selbstreflexion bezüglich vergangener visueller Sinneseindrücke als auch bezüglich momentaner Urteile über die persönliche Welt und deren Erleben. Das Gedicht strahlt durch seine Lexik („Tränentrog“, „Geschwüren“, „bedroht“, „Dornen“, „Schatten“, um nur einige Beispiele der ersten zwei Absätze zu nennen) eine düstere Stimmung aus, welche die tief versunkene Nachdenklichkeit des lyrischen Subjekts kenntlich macht.

Gamonedas Gedicht weist in einem lyrischen Narrationsstil freie Rhythmen auf und bricht auf diese Weise mit der traditionellen Verslyrik. Formal ist es in sechs Absätze – wobei diese unterschiedliches Volumen aufweisen – geteilt. Während der erste und die beiden letzten Absätze lediglich einen deklarativen Satz umfassen, sind die übrigen doppelt so lang. Zwei der längeren Absätze sind allerdings nicht nur quantitativ als komplexer zu empfinden, sondern auch in ihrer Satzkomplexität und in der zeichenreichen Ausführung, die optisch mehr Raum einnimmt. Formelhaft kann der Aufbau zusammengefasst werden mit: kurz – lang – kurz – lang – kurz – kürzer.

Dieses abwechslungsreiche Muster verebbt am Ende des Gedichts in einer Feststellung, die im Titel wieder aufgegriffen wird: „Klarheit ohne Muße“. Der Titel verweist auf einen Geisteszustand des lyrischen Subjekts, der allgemein als anstrebenswert bewertet wird: Klarheit. Doch bereits dieses nominalisierte Adjektiv verrät einen vorausgehenden Prozess, an dessen Ende schließlich Klarheit steht. Einer geistigen Verdunkelung enthoben ‚erfreut‘ sich das lyrische Subjekt dieses Zustandes, wobei im Gedicht jedoch ein resignierter Ton vorherrscht, denn am Ende heißt es „Das ist das Alter: Klarheit ohne Muße.“. Das zweite Substantiv des Titels verweist in Verbindung mit der negierenden Präposition wiederum auf eine gewisse Rastlosigkeit. Die Abwesenheit von Muße wird gekennzeichnet, der erreichte Zustand der Klarheit dem ungeachtet hervorgehoben. Dem Titel ist aber auch gerade jene Kritik zu entnehmen: das lyrische Subjekt ist zwar geistig klar, doch eine damit einhergehende geistige Erholung bleibt ihm vergönnt.

Der erste Absatz besteht aus einer Satzverknüpfung mittels der nebenordnenden Konjunktion „und“, welche die Aussage beider Satzteile oberflächlich gleichwertig macht, jedoch an dieser Stelle einen impliziten Kausalcharakter trägt. Es wird von einer vergangenen, visuellen Sinneswahrnehmung gesprochen, bei der eine Zierpflanze in einen Trog mit Flüssigkeit getaucht wird. Das Agens des Tauchens entzieht sich den Kenntnissen der Rezipierenden. Auch, ob die dem Verb immanente Semantik des Kurzweiligen von Bedeutung ist, oder ein ausgedehnteres Berühren von Pflanze und Flüssigkeit vorstellbar sind. Bedeutsam ist jedoch die nähere Deskription der Flüssigkeit des Behältnisses. Das okkasionelle Kompositum „Tränentrog“ evoziert das Bild einer großen, schweren, steinernen Wanne, deren eigentlicher Zweck die Gabe von Nahrung für Tier oder Mensch (beispielsweise als Wassertrog)  ist. Sein gleichklingender Anlaut verleiht dem Substantiv etwas melodisches. Inhaltlich ist der Begriff ambig. Denkbar sind zwei Lesarten:

1. ein Tränentrog ist ein Trog für Tränen (bzw. ein Trog, der Tränen beinhaltet)
2. ein Tränentrog ist ein Trog aus Tränen (bzw. aus Tränen als Material gefertigt)

Für die erste Lesart spricht, dass die Pflanze in etwas getaucht wird, was die Anwesenheit eines liquiden Stoffes in dem Trog impliziert. (Wobei auf der anderen Seite auch ein Tauchen in Luft vorstellbar wäre.)

Dieser Überlegung ungeachtet, verweist das Kompositum auf eine Vielheit an Tränen, da es sich in der Regel bei einem Trog um ein Gefäß von beachtlicher Größe handelt.

Interessant ist die pharmakologische Bedeutung der angeführten Pflanze. Lavendel wird als Sedativum verwendet und gilt somit als Hoffnungsanzeiger, der die Linderung einer Unruhe verspricht. Seine Verwendung als Einschlafmittel wird subtil im zweiten Hauptsatz aufgegriffen: „[...] und in mir entflammte das Traumbild.“. Die visuelle Scheinbeobachtung des Lavendeltauchens, welche einer Imagination des lyrischen Subjekts entspricht, ruft bei ihm die Erinnerung an einen Traum hervor. Kontrastvoll stehen dabei die Flüssigkeit der Tränen den Flammen des Traumes gegenüber. Beachtenswert ist dabei, dass die Flamme erst aus der Flüssigkeit geschaffen und nicht durch diese inexistent wird.

Der zweite Absatz beginnt inhaltlich wie der erste: die Imagination wird fortgesetzt. Syntaktisch erwehrt sich der erste Satz des zweiten Absatzes dem Parallelismus. Indem das direkte Objekt das Vorfeld besetzt, erscheint das Personalpronomen der ersten Person Singular – und somit der Hinweis auf das lyrische Subjekt – erst postverbal. Die Wortstellung im Satz rückt somit das erste Satzglied in den Fokus: „Sieche Schlangen“. Der Alliteration im Deutschen „Sieche Schlangen sah ich“ muss keinerlei Bedeutung beigemessen werden. Sie ist ein zufälliges Resultat der Übersetzung aus dem Spanischen Original („vi serpientes enfermas“). Es folgt eine Aufzählung dessen, was der Vision entnommen wurde, worin die kranken Schlangen lediglich das erste Glied bilden: Früchte und Gräser folgen. Die derart angeführte Lebewelt ist jedoch in ihrer Fragilität gekennzeichnet: durch den schlechten Gesundheitszustands eines Reptils, den schutzbedürftigen Früchten („bedroht von Dornen und Schatten“) sowie den „erregte[n] Gräser[n]“. Parenthetisch wird eine Wertung des lyrischen Subjekts bezüglich der Schlangen ergänzt: „schön in ihren gläsernen Geschwüren“. Das groteske Bild transparenter Schlangen empfindet das lyrische Subjekt als ästhetisch. Auffällig ist dabei die Nähe zur Schöpfungsgeschichte, zu der die Stichworte Schlangen und Früchte unwillkürlich Assoziationen wecken.

Den Höhepunkt der Deskription der fragilen Lebewelt ist im zweiten Satz des zweiten Absatzes zu finden: „Ich sah eine sterbende Nachtigall und ihre Kehle voll Licht.“ Neben den kranken Reptilien ist dem lyrischen Subjekt auch ein toter Vogel ersichtlich. Die Tiersymbolik der Nachtigall findet sich nicht zuletzt bei Shakespeare und kann daher als kanonisch betrachtet werden. Als Liebe symbolisierend ist vor allem im Gedicht von Gamoneda der Tod der Nachtigall signifikant, da er den Tod der Liebe bedeutet. Bedeutsam ist außerdem die nähere Beschreibung der Nachtigall in der Metapher „und ihre Kehle voll Licht“, welche Optimismus und Zuversicht zum Ausdruck bringt. Doch diese sind mit dem Tod des Vogels verendet.

Unklar bleibt allerdings, ob der zweite Absatz das Traumbild aus Absatz 1  näher erläutert oder ob dieser separat aufzufassen ist.

Im dritten Absatz findet ein Zeitensprung statt. Die bisherige Reflexion des lyrischen Ichs stützt sich auf Vergangenes, während die Präsensform des Verbes „träumen“ in der ersten Person Singular nun auf einen Gegenwartsbezug deutet. Das verwendete Verb stellt außerdem einen lexikalischen Zusammenhang zu dem „Traumbild“ des ersten Absatzes her. Die nüchterne Feststellung des lyrischen Subjekts „Ich träume mein Leben“ beschreibt eine gewisse Unzufriedenheit, die mit der Praxis des eigenen Daseins einhergeht. Gleichzeitig wird dem Leben wiederum mittels Metapher eine Qualität zugeschrieben „[...] es ist ein gepeinigter Garten.“ Die Personifikation der Metapher des Lebens als Garten, der gepeinigt ist/wird, kennzeichnet das Leid und die Qual, die das lyrische Subjekt mit seinem eigenen Leben verbunden erlebt.

Absatz vier leitet ein Paradoxon ein „Mein Denken ist älter als die Ewigkeit, doch es gibt keine Ewigkeit.“ Aufgeschlüsselt ergeben sich für den ersten Teilsatz folgende Implikaturen:

1.Die Ewigkeit existiert.
2.Die Ewigkeit ist alt bzw. älter als das Denken.

Gegen die Existenzspräsupposition richtet sich jedoch der folgende Teilsatz, der die beiden Implikaturen nicht erfüllt. Im Rückschluss kann auf einen Selbstzweifel des lyrischen Subjekts geschlossen werden, der sein Denken wie die Ewigkeit für nonexistent hält.

Endlich wird im darauffolgenden Satz der Grund für die düstere Stimmung des Gedichts deutlich gemacht: eine dem lyrischen Subjekt nahestehende Person gilt als vermisst und wird schließlich für Tod erklärt „Meine Jugend vertat ich vor einem leeren Grab [...]“. Mit dem Verlust der Person geht ein inniges Sehnen, Vermissen sowie ein langjähriger Akzeptanzprozess einher, wobei der ‚verschwendeten‘ Zeit gleichermaßen wie einst der geliebten Person nachgetrauert wird.

Bei der Trauerarbeit steht das lyrische Subjekt wiederum nicht still. Zumindest kann noch von keinem inneren Stillstand bzw. innerer Regungslosigkeit gesprochen werden. Die Rastlosigkeit des Titels findet sich wieder: „Noch kreise ich in mir selbst [....]“. Es folgt jedoch die Feststellung, die den Schlüssel bildet für das zweite Element des Titel, die Überzeugung der Klarheit: „[...] ich weiß, ich werde in meines eigenen Herzens Kälte fallen.“ Die Metapher des kalten Herzens dient dem Ausdruck einer aufkommenden Unempfindsamkeit, Taubheit und Rigidität des lyrischen Subjekts. Ebenjenes Wissen ist es, das das Gedicht in Melancholie wie den Lavendel in den Tränentrog taucht.


Anmerkung von Diablesse:

(übersetzt von Manfred Bös. Erschienen in: Du kamst, Vogel, Herz, im Flug. Spanische Gegenwartslyrik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004.)

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (18.09.13)
Sehr interessant. Gern gelesen. LG

 Diablesse meinte dazu am 19.09.13:
wow, ich dachte eigentlich, es wäre vergebens, sowas online zu stellen, wiederum war das mehr oder weniger ein guter nebeneffekt. um so mehr freut mich deine einschätzung. viele grüße.
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