Vom Vogel, der ein Mensch sein wollte - Teil 11

Erzählung zum Thema Mensch (-sein, -heit)

von  NormanM.

Am nächsten Morgen wachte er mit Übelkeit und Kopfschmerzen auf. Er fand sich so elend, dass er nicht einmal an die Sache mit Kerstin denken konnte. Außerdem hatte er einen schrecklichen Durst. Im Haus fand er weit und breit nichts zu trinken, er musste einen Supermarkt suchen und etwas kaufen. Aber vorher musste er sich erst einmal ein paar große Schlücke Wasser aus dem Hahn genehmigen.
„Guten Morgen“, begrüßte er mürrisch Tim, der etwas entfernt vom Haus auf einer Bank saß.
„Guten Morgen, du siehst ja heute noch schlimmer aus als gestern Abend. Was ist denn mit deinem Auge?“
„Ich habe Kerstin wieder getroffen, ich hab  sie angesprochen. Ihr Exfreund war bei ihr, er hat mich geschlagen.“
„Ach du Scheiße. Ich hatte schon befürchtet, dass irgendetwas passiert, als du gestern noch mal losgegangen bist. Und was ist dann passiert?“
„Wir sind aus der Kneipe geflogen. Kerstin hat sich dann um mich gekümmert, ein Taxi gerufen und mich nach Hause begleitet. Sie ist aber nicht da geblieben, sie sagte, ich solle erstmal nüchtern werden und später wieder mit ihr reden.“
„Das solltest du auch tun.“
„Mir ist echt übel.“
„Das ist normal, vor allem, wenn man keinen Alkohol gewohnt ist. Hast du schon gekotzt?“
„Ge…was?“
„Gebrochen, dich übergeben?“ Tim simulierte es, indem er würgte und den Mund öffnete.
„Ach so, nein.“
„Kommt wahrscheinlich noch“, kündigte Tim an. „Was machst du jetzt?“
„Ich muss mir etwas zu trinken kaufen. Ist hier ein Geschäft in der Nähe?“
„Ja, fünf Minuten von hier. Du musst einfach nur geradeaus gehen. Aber kauf bloß keinen Alkohol. Kauf Wasser und Cola.“
„Ja, Cola ist gut.“
„Und kauf dir etwas zu essen. Am besten Weißbrot oder Zwieback, das findest du dort auch.
„Ja, mache ich.“

Er stiefelte los. Den Supermarkt fand er schnell, doch musste er sich darin erst einmal zurecht finden, da er zuvor Geschäfte nur von außen gesehen hatte. Es kam ihm alles so riesig vor und er wusste teilweise gar nicht, was das, was er sah, war. Ah, da vorne standen Flaschen. „Coca Cola“ stand auf einigen drauf. Erfreut griff er direkt nach einem 6er Pack. Wie er Weißbrot oder Zwieback finden sollte, wusste er allerdings nicht.
„Entschuldigen Sie“, fragte er einen Mann. „Können Sie mir sagen, wo ich Zwieback oder Weißbrot finde?“
„Hallo? Sehe ich vielleicht aus wie ein Verkäufer?“, erwiderte der Mann unfreundlich.
„Weiß ich nicht, woran erkenne ich denn einen Verkäufer?“
„Spinner“, meinte der Mann, der dachte, dass es sich bei der Frage um einen Scherz handelte.
Mark beschloss ihn in Ruhe zu lassen, von ihm konnte er anscheinend keine Hilfe erwarten.
„Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Zwieback oder Weißbrot finde?“, fragte er eine Frau in seinem Alter.
„Sehr witzig“, meinte sie. „Noch plumper geht es wohl nicht.“
„Was meinen Sie damit?“
„Wenn das kein billiger Anmach-Versuch sein sollte, sind Sie wohl blind. Oder warum fragen Sie mich danach, wenn Sie direkt davor stehen?“, fragte die Frau und ließ ihn stehen.
Jetzt las er es: Zwieback. Okay, wenn er genauer hingesehen hätte, hätte er die Frau natürlich nicht fragen müssen, aber sie musste ja nicht gleich so reagieren. Das Gleiche galt für die Unfreundlichkeit des Mannes.
Jetzt musste er nur noch wissen, wie jetzt weiter vorzugehen war. Die Ware musste ja wahrscheinlich irgendwie bezahlt werden, aber er hatte keine Ahnung, wie das ablief. Ein weiteres Mal wollte er aber niemand fragen, er schien sowieso schon negativ aufgefallen zu sein. Ah, dort hinten standen viele Menschen in einer Schlange, die ihre Sachen auf eine Art Tisch stellten. Dabei saß eine Frau. Darüber stand „Kasse“. Dort wurde bezahlt, er beschloss sich dort auch anzustellen und das zu machen, was auch die anderen Leute machten. Während er zur Kasse ging, überholte ihn ein älterer Mann mit einem Einkaufswagen, der wohl unbedingt vor ihm dort sein wollte. Dabei fuhr er ihm über den Fuß.
„Autsch“, schrie Mark kurz auf. Das tat nämlich weh. Doch der Mann, dessen Schuld es eigentlich war, dachte keineswegs daran, sich zu entschuldigen, sondern sah ihn nur dumm an.  Dann begann dieser Mann seinen sehr vollen Einkaufswagen zu entladen und legte im Schneckentempo jedes Teil einzeln auf diese Oberfläche an der Kasse. Mark hatte nur ein Pack mit Colaflaschen und ein Paket Zwieback, dieser Mann hätte sich gar nicht so beeilen müssen, um ihn zu überholen.
„Entschuldigen Sie“, meinte Mark höflich zu ihm, ich habe nur die beiden Sachen, darf ich eben vorgehen?“
„Geht es Ihnen nicht schnell genug? Die Menschen von heute, keiner hat Geduld. Sie können jetzt mal üben, sich zu gedulden.“
Das sagt der Richtige, dachte Mark. Dann musste er eben warten, bis er dran kam. 
Die Frau an der Kasse rechnete die Preise der Ware von den Kunden wohl zusammen und sagte den Leuten dann, wie viel sie bezahlen mussten und die gaben ihr dann das Geld. Konnte die aber schnell rechnen. Ach so, sie hatte dort einen Computer stehen, der rechnete wohl alles aus. Aber es ging alles einfach ohne Probleme, nun hatte er auch das Einkaufen gelernt.

„Na, alles bekommen?“, fragte Tim, als Mark vom Einkaufen zurück kam.
„Ja. Ich habe Cola gekauft. Hier, möchtest du auch eine Flasche?“
„Oh ja, gerne. Danke, ich habe schon ewig keine Cola mehr getrunken.“ Erfreut nahm Tim die ihm angebotene Flasche an.
Mark erzählte ihm von den Begegnungen mit einigen Menschen aus dem Einkaufsladen.
„Tja, so sind die Menschen, leider. Nicht alle, aber sehr viele. Solche Menschen werden dir immer wieder begegnen.“

Als er sein Haus betrat, fand er einen Briefumschlag, der auf dem Boden lag. Jemand hatte ihn durch den Türschlitz geworfen. Er öffnete ihn und nahm den Brief heraus.

Lieber Mark,

ich weiß, dass ich lieber mit dir persönlich reden sollte, aber es fällt mir schwer, weshalb ich dir diesen Brief schreibe.
Ich habe heute Nacht viel über unsere Begegnung nachgedacht. Du bist wirklich ein toller Mensch, du bist sehr gutmütig und ich mag deinen eigenartigen Humor, mit dem du mich sehr zum lachen bringen kannst und ich glaube dir inzwischen, dass du das, was du zu mir sagtest, ernst meintest. Aber ich habe dir nicht alles über mich erzählt. Dies hier ist zwar meine Heimatstadt, aber ich lebe schon seit einigen Jahren in Berlin. Ich bin zurzeit nur für ein paar Tage zu Besuch hier bei meinen Eltern.
Solltest du dich wirklich in mich verlieben, würde es sowieso keinen Sinn mit uns haben, da die Entfernung einfach zu groß ist und wir uns viel zu selten sehen könnten. Es ist einfach besser, wenn du mich vergisst, bevor du nur unglücklich wirst. Ich werde bereits morgen schon wieder zurück nach Berlin fahren.
Ich weiß, es klingt feige von mir, vielleicht bin ich es auch. Vielleicht habe ich wirklich Angst, dass sich Gefühle zwischen uns entwickeln.
Bitte sei mir nicht böse, dass ich es dir auf diesem Weg sage.

Alles Liebe
Kerstin

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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (01.12.13)
Habe es bereits gestern Abend gelesen, aber kommentiere es nun erst. Auch dieser Teil hat mir gefallen, v.a. mit dem Brief (auch wenn es traurig ist)
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