Die schwarze Rose

Kindergeschichte zum Thema Freundschaft

von  tulpenrot

„Schaut doch bloß mal unsere schöne saftige Wiese an“, sagte begeistert Felix, der blinde Maulwurf zu seinen Freunden. Max, der Spatz war zu Besuch gekommen und auch Lukas, der Regenwurm und noch Paola, die Schmetterlingsfrau – alle saßen zusammen unter dem Fliederbusch und hatten feinen Brennnessellikör getrunken. Sie waren sogar ein bisschen übermütig geworden. Sie lachten und tuschelten und nuschelten und wuschelten und konnten gar nicht genug davon bekommen.
„Du kannst doch gar nichts sehen“, wunderten sich seine Gäste. „Wie kannst du wissen, wie unsere Wiese aussieht?“
Der Regenwurm duckte sich verschämt – er konnte ja auch genauso wenig sehen, wie der Maulwurf. „Ihr habt ja keine Ahnung“, erwiderte Felix, der Maulwurf. „Ich rieche doch die Wurzeln, wenn ich unter der Erde meine Gänge grabe. Und da es so viele verschiedene wohlriechende Wurzeln gibt, muss die Wiese ja auch sehr bunt aussehen für eure Augen. Stimmt es?“
„Ja, du hast Recht. So eine schöne Wiese hat niemand sonst weit und breit“, stimmte Paola, der Schmetterling zu. „Ich komme ja viel rum. Aber nicht einmal der Bauer Eduard hat so eine bunte Wiese.“
Und Lukas, der Regenwurm nickte dazu. Er konnte mit seiner feinen rosigen Haut die Säfte spüren, die die Pflanzen in die Erde abgaben. Wenn er an ihren Wurzeln vorbei kam, kitzelte es auf seiner Haut oder es stach ein wenig oder es wurde ihm ganz warm. Jede Pflanzenwurzel sonderte ihren speziellen Saft ab. Felix und Paola schauten sich um. Und wirklich: Da blühten stolze Margeriten neben bescheidenen Gänseblümchen, kleine blaue Veilchen duckten sich ins Gras, gelbe Löwenzahnblüten leuchteten von weither, weiche rote Mohnkelche nickten bei jedem Wind, als ob sie sich vor jemandem verneigen wollten, und eine Fülle von blühenden Gräsern glich einem Meer, das sich in Wellen dem Wind beugte und wieder aufrichtete. Es war wirklich eine Pracht. Die Menschen, die hier vorbeiwanderten, blieben oft stehen, nahmen ihre Fotoapparate und knipsten viele Bilder – von nah und von fern. Sie brachten ihre Decken mit oder legten sich einfach so ins Gras und atmeten die würzige Luft ein. Und da alles so schön war, bat Paola, die Schmetterlings-frau: „Max, sing uns ein Lied.“  Also begann Max, der Spatz ein lustiges Liedchen zu trällern, nachdem er sich den Schnabel geputzt hatte.

Am Morgen sing ich Falala
am Abend summ ich Brummtata
Im Sommer flöt ich Schlummlibum
bis dass mein Kopf wird schwer und dumm.

Ich träum, der Herbst hätt‘ über Nacht
ein großes Klappermümpf gebracht.
Doch wenn es schneibelt faslihott,
dann wintert es in Klübenhott.

Wenn endlich kommt die Frühlingstüt,
dann freut es mich und alle Lüt.
Dann sing ich wieder Falala
und summ ein tiefes Brummtata.

Paola hüpfte dazu von Grashalm zu Grashalm und Felix, der Maulwurf schnüffelte laut im Takt mit, bis sich Lukas, der Regenwurm vor Lachen in Falten legte. Das fand Max so komisch, dass er nicht mehr weitersingen konnte und sich den Bauch halten musste vor Vergnügen.  Aber wie so oft bei Menschen und Tieren blieb nicht alles so fröhlich, wie es gerade war. Manchmal wird es richtig ärgerlich. Max ärgerte sich, Lukas ärgerte sich und vor allem Paola hatte einen mächtigen Zorn im Bauch. Und Felix kam ganz durcheinander.

Es begann schon gleich am selben Abend. Felix wollte noch einen Spaziergang machen, bevor er sich in seine Schlaf-Höhle unter der Erde verkroch. Da hörte er plötzlich ein klägliches Wimmern an der Gartenmauer von Bauer Eduard. Er schlich näher heran, um zu riechen, was denn da los war. Es klang wie die Stimme von Lukas. „Lukas, bist du da?“ flüsterte er vorsichtig. Niemand antwortete, nur das Schluchzen wurde lauter.
„Wer ist da?“, rief Felix ein wenig mutiger und lauter. „Öch bön dös“, jammerte die Stimme.
Felix rutsche noch ein wenig näher. „Wie ist dein Name?“, fragte er und versuchte zu erschnüffeln, ob er etwas Bekanntes riechen konnte. „Hölfe! Hölfe!“ wimmerte es wieder von der Mauer her. Wenn doch nur einer von seinen sehenden Freunden da wäre! Felix fühlte sich ungemütlich so ganz allein bei Nacht mit diesem Wesen, von dem er nicht wusste, wer es war. Es roch nicht nach Lukas oder nach Paola und nicht nach Max. Es roch irgendwie geheimnisvoll, ganz neu und anders als sonst.
„Was ist los? Wie soll ich dir helfen?“ fragte er ins Dunkel hinein.
„Kümm doch, bütte möl hör!“ schluchzte es von der Gartenmauer her.
Was sollte er tun? Was, wenn das eine Falle war, wenn da jemand im Dunklen auf ihn lauerte, um ihm weh zu tun oder ihn zu rauben? Da hatte Felix eine Idee: Er würde auch anfangen zu wimmern und zu schluchzen und zu rufen. Vielleicht kämen dann seine Freunde und er wäre nicht allein.  Also rief er laut: „Hilfe! Helft uns!“ und noch einmal ganz durchdringend laut: „Hilfe! Helft uns!“ Und als nach einer Weile niemand kam, rief er noch einmal und noch einmal.
Endlich hörte er Paolas Flügelschlag. Er spürte, wie sie sich zu ihm ins Gras setzte.
„Paola, bist du es?“, fragte er vorsichtig. „Ja, ich bin es. Was schreist du denn so laut? Hast du dich verletzt?“ „Nein“, antwortete der Maulwurf, „aber da vorne an der Gartenmauer sitzt irgendjemand und jammert, und ich weiß nicht, wer es ist, und wie man helfen kann. Da wollte ich, dass jemand mit dabei ist.“ Paola lauschte in die Nacht, aber sie konnte nichts hören. „Du hörst das Gras wachsen“, amüsierte sie sich, „da ist doch gar nichts.“
„Seit wann ruft das Gras ‚Hölfe‘?“, fragte Felix beleidigt, „es hat irgendjemand ganz deutlich ‚Hölfe‘ gerufen. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Und es waren keine Grashalme!“
„Also, dann flieg ich mal hin an die Stelle und werde nachschauen und dich beruhigen, dass da nichts ist.“ Und schon war sie weg. Felix wartete - und wartete und wartete.
„Paola, bist du noch da?“, rief er in die Nacht hinaus. Doch es blieb alles ganz still.
„Paola, ist etwas geschehen? So gib doch Antwort!“ Paola antwortete nicht. Diese Stille war noch unerträglicher als die Hilferufe vorhin. Was sollte er denn jetzt machen?
„Paola! Paola, wo bist du?“
„Was schreist du denn so laut mitten in der Nacht? Bist du verrückt geworden oder verliebt?“, hörte er plötzlich neben sich eine vertraute Stimme. Lukas streckte seinen Kopf aus der Erde und rieb ihn freundschaftlich am Fell des Maulwurfs. Der zitterte am ganzen Leib, so hatte er sich erschrocken. „Ich bin es doch nur, Lukas, dein Freund. Jetzt beruhige dich erst einmal und sag, was los ist.“
„Paola … sie ist weg und da vorne … da an der Mauer … da im Dunklen, da ist ein schreckliches Ungeheuer, das sie … womöglich verschluckt hat“, stotterte Felix. „Paola … antwortet nämlich nicht mehr …, wenn ich rufe.“ Felix war ganz verzweifelt.
„Und warum ist Paola dorthin geflogen?“, wollte Lukas wissen. „Sie … sie wollte sehen, warum das Ungeheuer … so gestöhnt und gejammert und … geschluchzt hat.“
Lukas überlegte, was zu tun sei, Felix hörte auf zu zittern, beide wussten keinen Rat.
Da raschelte es plötzlich über ihren Köpfen im Geäst der Buche. „Was sitzt ihr hier mitten in der Nacht rum?“, fragte es aus dem Blätterdach. „Oh, das ist Clarissa, die Nachteule“, freute sich Felix. „Komm mal herunter. Wir wissen nicht weiter“, antwortete Lukas, „wir können dich dringend gebrauchen. Du bist doch so weise.“ „Und du kannst doch nachts besonders gut sehen“, fügte Felix hinzu.

Da setzte sich die Eule auf den untersten Ast und hörte sich die Geschichte an, die Lukas und Felix zu erzählen hatten. „Ich will euch gerne helfen“, sagte Clarissa. „Als erstes brauchen wir Licht. Lasst mich überlegen:“ Sie klappte die Augen für eine Weile zu um nachzudenken und klappte sie wieder auf und sagte: „Ich hab’s. Am besten werde ich alle Glühwürmchen sammeln. Und meine Augen sind auch nicht die schlechtesten bei Nacht. Und dann machen wir uns auf und suchen nach Paola. Ihr beiden sucht in euren Gängen unter der Erde, wir suchen oben. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht herauskriegen sollten, wer da ‚Hölfe‘ gejammert hat und wo Paola abgeblieben ist.“ Und so vergruben sich Felix und Lukas in die Erde und liefen durch ihre Gänge bis an die Mauer. Clarissa rief die Glühwürmchen und sagte ihnen, was sie tun sollten, und flog voraus, denn sie wusste am besten den Weg.

Sie kamen an dem Schlaf-Baum von Max, dem Spatzen vorbei. Der wurde richtig geblendet, so hell war es, und wachte auf. „Was ist los?“ wunderte er sich. „Komm mit“, rief die Eule im Vorbeifliegen. „Wir suchen Paola und helfen irgendjemandem in Not.“ Aufgeregt flatterte Max hinterher. „Ich verstehe nicht ganz. Was ist denn geschehen?“, wollte er wissen.
„Frag nicht lange, komm einfach mit, wir werden es sehen“, antwortete die Eule streng. Gemeinsam flogen sie ganz dicht an der Mauer entlang, um zu sehen, ob sie etwas Verdächtiges fänden.
Felix und Lukas gruben sich inzwischen durch ihre Gänge, tiefer und tiefer, und trafen sich immer wieder an den Kreuzungen. „Hast du was gefunden?“  „Nein, du?“  „Nein, ich auch nicht.“  So ging es eine Weile.  Doch auf einmal weitete sich vor Felix ein Gang, er wurde ganz hoch und breit, ja fast rund. Das konnte er hören, denn seine Grabgeräusche klangen ganz anders, irgendwie hohl, und sie hatten ein Echo. Lukas kam von der anderen Seite auch genau in diese Höhle.  „Es riecht hier aber merkwürdig“, meinte er. „Es riecht wirklich merkwürdig, richtig faulig. Mir wird fast übel“, meinte auch Felix. „Paola, bist du da?“
„Hilfe!“, tönte es jetzt ganz in ihrer Nähe. Beide erschraken fürchterlich, denn das war nicht Paolas Stimme, sondern sie dachten, dass das sicher das Ungeheuer sei, das Paola gefressen hatte. So ein Schreck! Das war zu viel für so einen armen nackten Regenwurm und das war zu viel für einen wuscheligen blinden Maulwurf. Schnell gruben sie sich wieder ein. Ihnen wurde ganz kalt und heiß zugleich und sie fielen vor Schreck und Gestank in eine tiefe Ohnmacht, bevor sie wussten, in welche Lage sie gekommen waren.  Daher merkten sie auch nicht, dass es plötzlich hell um sie wurde. Die Glühwürmchen waren herangeflogen. Sie taten ihr Bestes und leuchteten so stark, wie sie nur konnten. So sahen Clarissa und Max aus der Luft eine merkwürdige dunkle Rose an der Mauer. Sie war schwarz wie die Nacht.
„Uiih“, machte Max und segelte in Kreisen um die Rose herum. „Ohoh“, machte die Eule und klimperte mit den Augen. „Das habe ich ja noch nie gesehen“, sagten beide gleichzeitig und mussten lachen.
Die schwarze Rose aber reckte sich stolz an der Mauer hoch und sprach mit tiefer drohender Stimme: „Was fällt euch ein, mich hier mitten in der Nacht zu stören.“
„Wir… wir …“ stammelte Max. „Wir suchen unsere Freundin und wir wollen jemandem helfen, der in Not geraten ist“, antwortete kühl die Eule. „Ich kenne eure Freundin nicht und hier ist auch niemand in Not geraten. Jetzt lasst mich in Ruhe“, keifte die schwarze Rose.
„Hölfe!“, tönte es in ihrer Nähe. „Aber, Verehrteste, da stimmt doch etwas nicht. Hier ruft jemand um Hilfe.“ „Ich höre nichts“, antwortete die Rose steif.  Sie war so kalt und finster, dass es einen grausen konnte.
Doch Clarissa ließ sich nicht beeindrucken. Sie befahl den Glühwürmchen, die ganze dunkle Rose abzusuchen, in alle Winkel und Blattunterseiten sollten sie leuchten, um zu sehen, wer da in Not war. Die Rose war an der Mauer festgebunden, deswegen konnte sie sich nicht rühren, nur höher konnte sie sich recken, um zu zeigen, wie erhaben sie war, und ihre Stacheln konnte sie aufrichten. Aber die Glühwürmchen taten ihre Arbeit so geschickt, dass die Rose ihnen nicht weh tun konnte. „Ihr werdet nichts finden“, behauptete sie kühn. „Das alles ist ja nur lächerlich und ein großer Unfug, den ihr hier veranstaltet.“ „Das werden wir ja sehen“, antwortete die Eule unerschrocken.
„Ich hab’s“, rief da plötzlich ein Glühwürmchen aufgeregt, „kommt alle mal her. Hier unten ist eine Höhle unter den Rosenwurzeln. Und da kommen die Hilferufe her.“ Sie leuchteten gemeinsam in die Höhle unter den Wurzeln und sahen einen winzigen Frosch da sitzen. Der schaute sie ganz mitgenommen an.  Ein Glühwürmchen flog nahe zu ihm heran. „Oh, du hast ja eine Schramme am Bein!“, rief es voller Mitleid. „Es tut so weh“, jammerte der Frosch.
Da fasste sich Max ein Herz. Er segelte kurzentschlossen im Sturzflug hinab und packte den Frosch im Nacken, so wie man ein Kaninchen packt, und hob ihn vorsichtig hoch. Der Frosch stöhnte zwar ein wenig, aber dann genoss er es, durch die Luft zu fliegen und sicher wieder auf dem Boden zu landen.
„Endlich“, seufzte er erleichtert.  „Was ist dir denn geschehen?“, wollte Clarissa, die Eule wissen.
„Ich kam an dieser schwarzen Rose vorbei. Sie hat mich mit ihrem Duft betäubt und mir wurde ganz komisch und ich fiel in dieses Loch. Dabei hab ich mich auch noch an einem Stachel aufgeritzt. Jetzt bin ich froh, dass ihr mich gerettet habt. Vielen Dank.“  Clarissa rupfte sich eine weiche Feder aus ihrem Federkleid, betupfte sie mit Löwenzahnstaub und legte sie vorsichtig auf das Bein wie ein Pflaster.
„Lass es bis morgen auf der Schramme und am Abend ist alles wieder gut“, sagte Clarissa.
„Es tut schon gar nicht mehr weh“, freute sich der Frosch „Danke!“, rief er noch einmal und hüpfte fröhlich davon.

Vor lauter Freude hätten alle fast vergessen, dass ihre Suche ja noch gar nicht beendet war. Nur das kleinste Glühwürmchen dachte daran – es wollte doch noch Paola finden. Und wenn ihm das gelänge, könnte es allen zeigen, dass es auch schon groß und wichtig war wie die anderen. Also umflog es besonders sorgfältig alle Blätter der schwarzen Rose. Aber es fand nichts. Keine Paola auf einem Blatt, keine Paola unter einem Blatt oder neben einem Blatt am Stängel – einfach nichts und niemand. Das Glühwürmchen gab sich alle Mühe. Die schwarze Rose fand das lustig. Sie schüttelte ihre Blätter und lachte das Glühwürmchen aus. Sie lachte so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam. Es war ein richtig böser Lachanfall. Und als sie ihren dunklen Blütenkopf so hoch, wie sie konnte, reckte, musste sie auf einmal heftig niesen.
„Hatschi“ und noch einmal “Hatschi“ und ein drittes Mal „Hatschi“. Das Glühwürmchen schlüpfte erschrocken in die Blüte der Rose. Und was fand es da zu seiner Überraschung? Mit zusammengefalteten Flügeln lag Paola zwischen den Blütenblättern und schlief ganz fest. Das Glühwürmchen leuchte in ihre Augen, aber Paola blinzelte nur kurz und schlief weiter.
„Max, ich hab Paola gefunden! Komm und hole sie heraus“, rief das Glühwürmchen. Max war gleich zur Stelle. Aber die böse schwarze Rose warf ihren Blüten-Kopf hin und her, sodass er zunächst nicht landen konnte. Doch Max ließ nicht nach – er war schnell und behände und – schwupps! - da hatte er mit seinem Schnabel Paolas Flügel erwischt, flog mit ihr zur Erde und legte sie vorsichtig ins Moos.
Clarissa betrachtete die Schlafende und meinte dann: „Wir müssen ihr frische Luft zufächeln und sie mit Löwenzahnpuder bestäuben, damit sie aufwacht. Sie schläft ja so fest, als ob sie jemand betäubt hätte.“ Da lachte die schwarze Rose wieder hämisch und brüstete sich: „Seht ihr, was ich kann? Ich bin die mächtigste Pflanze auf Erden.“ „Was bist du denn für eine Rose, die so etwas tut? Erst einen Frosch betäuben und dann noch einen armen Schmetterling, der dem Frosch zu Hilfe kommen wollte“, herrschte Clarissa die Rose an. „Da kann man sich nur wundern.“
Und die Glühwürmchen machten ein zischendes „Tztztz“ und wunderten sich auch.
„Ich bin die Königin der Blumen und kann machen, was ich will“, antwortete die schwarze Rose dreist. „Was ich tue, ist richtig und niemand kann mir Vorschriften machen. Schon gar nicht so ein Gesindel, wie ihr es seid.“
„Na, na, na, nun mach mal einen Punkt. Du bist aber sehr überheblich“, schimpfte der Spatz. „Was bist du denn Besonderes? Du bist an der Mauer angebunden und kannst weder fliegen noch hüpfen wie wir.“ „Und leuchten kannst du auch nicht. Dafür bist du viel zu dunkel“, ergänzten die Glühwürmchen und kicherten frech.
„Meine Blüten und Blätter sind etwas Besonderes und meine Stacheln – und erst recht mein Duft“, schwärmte die Rose und breitete ihre Zweige aus, als ob sie ein Pfau wäre. „Ihr habt mir meinen Schmetterling entrissen. Er sollte mein Diener werden und mir gehorsam sein. Er sollte mich umflattern und mir jeden Tag sagen, wie schön ich sei. Ein heller Schmetterling und eine dunkle Rose - wie gut die doch zusammenpassen. Und ihr habt ihn mir weggenommen. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.“
„So ein eitles Geschwätz!“ Max, der Spatz schüttelte voller Abscheu sein Gefieder.  „Wenn ihr wüsstet“, sagte die Rose und tat sehr geheimnisvoll. „Wenn wir was wüssten?“ fragte Max schnell nach. Er ahnte nichts Gutes. Die Rose jedoch antwortete nicht, sondern lachte wieder ihr grausliges Lachen.

Inzwischen war Paola aufgewacht. Sie richtete ihre Flügel auf und taumelnd flog sie eine kleine Runde und setzte sich wieder zu den anderen Tieren, um sich noch einmal auszuruhen.
„Danke, ihr habt mir wirklich geholfen. Ihr seid gute Freunde.“ Da lächelten die Glühwürmchen bescheiden und das kleinste von ihnen freute sich über seinen Erfolg. Die Eule jedoch nickte bedeutsam mit dem Kopf. Max wurde richtig übermütig und forderte den Schmetterling auf: „Komm, wir fliegen noch ein paar Mal um die schwarze Rose, damit ihr ganz schwindelig wird. Zur Strafe sozusagen.“ Während sie die Rose umkreisten, dämmerte es langsam. Der Himmel färbte sich hellgrau und leicht rosa.
„Ich bin müde“, sagte Clarissa. „Ich werde euch nun verlassen und auf meinem Baum bis morgen Abend schlafen. Macht’s gut. Es hat mir Freude gemacht.“
„Uns auch. Dir auch ein Danke“, antworteten die Tiere und winkten ihr nach. Max und Paola setzten sich mit den Glühwürmchen ins Gras abseits von der Rose. Sie hatte aufgehört zu lachen und sich matt an die Mauer gelehnt. Es war ganz still und ziemlich kühl. Jeder träumte ein wenig vor sich hin.

Eines aber hatte Clarissa vor lauter Müdigkeit vergessen. Und auch Max und Paola hatten es vergessen. Doch wie ein Donnerschlag fiel es den Dreien wieder ein.
„Oh nein!“, rief Clarissa auf ihrem Baum und flatterte sogleich zurück zur Gartenmauer.
„Oh nein!“, riefen Paola und Max gleichzeitig aus und schüttelten ihre Flügel.
„Jetzt geht das Ganze wieder von vorne los. Wir haben Lukas und Felix aus den Augen verloren. Wo stecken die bloß?“, stöhnte Clarissa und setzte sich auf die Gartenmauer. „Anscheinend habt ihr nicht sorgfältig genug gesucht, sonst hättet ihr sie doch auch gefunden.“ Traurig und auch beleidigt ließen alle die Köpfe hängen. „Warum bist du so böse auf uns? Wir haben doch alles getan, was möglich war!“, wagte Max zu sagen. „Vielleicht haben sie sich verkrochen und schlafen längst und wir brauchen uns gar keine Sorgen zu machen.“ „Und ich hab mein Leben riskiert, als ich losflog. Schließlich bin ich ein zarter Schmetterling. Da kann immer leicht etwas passieren“, verteidigte sich Paola. Sie war sauer und deswegen ganz gelb geworden. Das sah man selbst an diesem Dämmermorgen.
„Könnt ihr denn nicht einmal Ruhe geben? Jetzt musste ich schon die ganze Nacht euren Lärm ertragen. Ihr seid unverschämt!“, schimpfte die schwarze Rose und kletterte noch ein wenig höher, um richtig mächtig auszusehen. „Eure Zänkereien könnt ihr woanders abhalten, aber nicht hier bei mir. Los, verschwindet!“, rief sie und wedelte furchterregend mit ihren Blättern.
Max, Clarissa und Paola ließen sich nicht einschüchtern, sondern flogen auf und kreisten suchend gemeinsam um den Kopf der Rose. Sie hatten den Verdacht, dass auch Lukas und Felix in der Nähe sein mussten. Doch sie fanden nichts und setzten sich wieder ins Gras an der Mauer. „Ich hatte den beiden ganz am Anfang gesagt, sie sollten in der Erde suchen“, erinnerte sich Clarissa.  „Hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen“, fürchtete sich Paola.
„Sie sind zu zweit, da können sie sich gegenseitig helfen“, versuchte Max die anderen zu beruhigen. Aber so ganz wohl war ihm auch nicht.
„Hat denn niemand eine Idee, wo wir suchen könnten?“ fragte Clarissa die beiden.
Alle dachten nach. „Oh, seht einmal, was passiert ist. Die Rose ist ja ganz still und sie lässt die Blätter hängen“, rief Paola plötzlich. „Sie schläft nur“, vermutete Clarissa.
Max schaute sich die Rose genauer an.  „Nein, da stimmt etwas nicht. Jetzt werden die ersten Blätter unten am Grund der Rose welk.“  Er flog besorgt auf die Mauer und spähte mal mit dem rechten Auge von oben nach unten an der Rose entlang, dann mit dem linken Augen von unten nach oben zurück. Aber er entdeckte nicht, woran das liegen konnte. Die Rose sah richtig krank und kümmerlich aus und hing mehr an der Mauer, als dass sie an ihr stolz und aufrecht hochrankte wie zuvor.
„Und jetzt lässt sie sogar den Kopf hängen. Das sieht richtig traurig aus“, bemerkte Paola.
Alle drei saßen auf der Mauer und waren ratlos. Da sahen sie auf einmal, wie sich rund um die Rose die Erde bewegte. Kleine Hügelchen aus Erdkrümeln bildeten sich, und gleich darauf hörten sie ein Schnaufen und Prusten direkt unter ihnen. Clarissa konnte sich denken, wer das war. „Felix, bist du das?“, fragte sie. „Hümpf“, machte es und noch einmal ein bisschen heller: „Himpf“. Und dann sah man tatsächlich den Kopf von Felix herausschauen. Bald darauf guckte auch Lukas fröhlich aus einem Erdgang heraus. Ihre Backen waren ganz dick, und als sie jetzt ganz herauskrochen, sah man, dass sie ordentlich zugenommen hatten.
„Ein Glück, dass ihr wieder da seid“, freute sich Max. „Wo ward ihr denn bloß so lange? Und womit habt ihr euch denn so voll gefressen?“, wollte Paola wissen. „Och, wir waren ein wenig hungrig, nachdem wir aus unserer Ohnmacht aufgewacht sind“, erzählte Lukas. „Da haben wir ein paar Wurzeln gefressen. Die schmeckten zwar nicht besonders, aber das war besser als gar nichts.“ „Paola, du bist ja wieder da“, wunderte sich Felix. „Wir haben dich gesucht.“ „Das kleinste junge Glühwürmchen hat mich gefunden. Das war richtig nett. Denn die Rose hatte mich betäubt.“ Paola zeigte auf die schwarze welke Rose.
„Die sieht aber gar nicht so toll aus“, fand Felix. „Ach du meine Güte!“, rief plötzlich Lukas, „wir haben anscheinend an den Wurzeln der Rose genagt. Und jetzt muss sie vertrocknen, weil sie nicht genug Wasser aus der Erde saugen kann! O weh!“ „Das geschieht ihr recht. Sie war so stolz und gruselig.“ Max war richtig böse auf die Rose. „Aber wir - wir wollen nicht genauso böse sein wie sie“, meinte Felix, „wir sollten dem Bauer Eduard Bescheid sagen, damit er etwas unternimmt, damit es der Rose besser geht.“

So erschienen die Tiere bei Bauer Eduard und erzählten ihm alles. Der ging mit ihnen an die Gartenmauer zur schwarzen Rose, schnitt die welken Triebe ab und grub sie aus, knipste auch noch ein wenig von den Wurzeln ab und pflanzte sie am Gartentor wieder ein.
„Diese Verjüngungskur hat ihr bestimmt gut getan“, meinte er dann. „Ich wollte sie schon lange anderswo hinsetzen.“ Und als er das besorgte Gesicht von Lukas und Felix sah, meinte er: „Die erholt sich wieder. Passt auf, im Frühsommer wird sie wieder blühen.“ Und dann gab er der Rose noch einen kräftigen Schuss Wasser und düngte sie, damit sie genug Nährstoffe bekam. Dann ging er zurück ins Haus und wirkte sehr zufrieden.
„Das ging aber gut aus. Ich hatte schon Angst, wir bekämen Schelte, weil wir die Wurzeln angefressen hatten“, bemerkte Felix erleichtert.
Als die Tiere auf einem ihrer Ausflüge im Frühsommer wieder einmal am Gartentor vorbeikamen, waren sie ganz erstaunt: Eine prächtige, herrlich duftende rote Rose blühte da.
„Hallo“, rief Paola ihr zu. „Huhu“, winkte Clarissa hinüber. „Tschilp, tschilp“, freute sich Max. „Fütz, fütz“ und “nüpf, nüpf“, kam es aus dem Gras. Das waren Lukas und Felix.
„Sirr, sirr, sirr“, tönten die Glühwürmchen  aus der Luft.
Die rote Rose, die einmal schwarz war, nickte ihnen freundlich zu. Sie rankte zwar nicht mehr so hoch über die Gartenmauer, aber sie blühte umso üppiger. So viele Blüten und Knospen waren zu sehen, dass die Glühwürmchen sie gar nicht zählen konnten.
„Ich habe etwas gelernt durch euch“, sagte sie.  „So? Was denn?“, wollte das kleinste Glühwürmchen wissen.  „Ich habe gelernt, dass es nicht darauf ankommt, wie groß man ist und wie viel Furcht man anderen einjagen kann, sondern darauf, dass man sich gegenseitig hilft und ein guter Freund ist. Ihr seid gute Freunde zu einander und habt euch gegenseitig geholfen. Das habe ich noch nie so erlebt.“
Die Tiere waren ein wenig verlegen.
„Das Großsein und Erhabensein macht unglücklich, einsam und traurig. Erst wenn man für einander da ist und sich hilft, kann man glücklich sein“, fuhr die Rose fort. „Und man muss nicht groß sein, um etwas Wichtiges zu tun.“ Dabei zeigte sie auf das allerkleinste Glühwürmchen. Dem wurde ganz warm ums Herz. So etwas Nettes hatte noch nie jemand von ihm gesagt.


Anmerkung von tulpenrot:

Eine Geschichte für meine "Adoptivenkel" Eric und Gini

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Kommentare zu diesem Text


 Jorge (03.01.14)
Als Kurzgeschichte wirklich etwas sehr lang.
Aber der Leser wird entschädigt, durch eine bezaubernde Geschichte, die von Tieren erzählt und die eine Rose mit philosophischer Sicht vorstellt.
Lesens- und Vorlesens wert.
LG Jorge

 tulpenrot meinte dazu am 03.01.14:
Danke für deine Rückmeldung, deine ** und dein Lob. Ich hatte übersehen, dass es die Kategorie "Kindergschichte" gibt. Hab es geändert.
Am Montag wird sie zusammen mit anderen Geschichten überreicht - bin gespannt, wie das Geschichten-Heftchen ankommt, das nun entstanden ist.
Liebe Grüße in deinen Abend
Angelika
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