Ilse klingelte eine Viertelstunde zu früh an meiner Haustür. Das geht ja schon gut los, dachte ich. Mir wäre so etwas nicht eingefallen, wenn mich jemand eingeladen hätte. Ich wäre noch ein paar Mal um den Häuserblock gefahren oder hätte im Auto die Zeit abgewartet, um den Gastgeber nicht in Verlegenheit zu bringen. Ihr war das offensichtlich egal, sie klingelte einfach.
Ich – auf der anderen Seite der Tür - hatte mir gerade überlegt, ob ich mir nicht doch noch die Haare schnell waschen sollte. Sie trocknen mit dem Fön unglaublich schnell. Die Zeit hätte gereicht. Auch hatte ich noch keine Schuhe an, und den letzten Entschluss zu meiner Kleidung hatte ich auch noch nicht gefasst. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Also machte ich barfuß, im sommerlichen, schlabberigen Hauskleid und mit nicht ganz so frischen Haaren die Türe auf.
„Ich komme etwas früher“, sagte Ilse entschuldigend und überreichte mir zwei kleine Flaschen. Eine mit Sekt - „ich trinke doch keinen Sekt“ überhörte sie - und eine mit Holundersaft. „Den habe ich selber geschenkt bekommen. Ich trinke keine Säfte, du trinkst doch sicher Saft.“
„Ja, schon, aber keinen Holundersaft, davon wird mir schlecht“, erwiderte ich zaghaft, „aber ich werde mir etwas einfallen lassen. Man kann ihn ja mit anderen Säften mischen.“ Sie überhörte auch das.
Ich wollte gerne höflich sein und schaffte es dank jahrzehntelanger Übung auch. Dafür saß ich ihr nun barfuß, mit ungewaschenen Haaren gegenüber und mit diesem Sommerkleid. „Schön“, sagte sie dazu. Ich war beruhigt, wollte nun meinerseits ein freundliches Kompliment anbringen. Doch mir fiel partout nichts ein, obwohl ich Ilse eingehend betrachtete.
Aufrecht thronte sie auf meinem Sofa. Sie hatte Haltung ungeachtet der brütenden Hitze, war ganz Dame. An ihre Kleidung erinnere ich mich nicht mehr, wahrscheinlich elegant wie immer. Ihre Haare interessierten mich eher. Schon immer faszinierten sie mich, denn nie lag ein Haar ungeordnet falsch oder bewegte sich im Wind oder regte sich bei Kopfbewegungen – jedes Haar lag artig neben dem anderen. Steif war ihre Frisur dem Kopf angepasst. Von der „Konsistenz“ her fast wie meine Frisur, dachte ich boshaft. Zugleich war ich erleichtert und schämte mich etwas weniger. Wenn mir doch nur ein Kompliment einfiele! Wahrscheinlich war es heute einfach zu heiß dafür.
„Dein Fernseher sieht wie ein Stiefkind aus, da in der Ecke.“
Sie sah mein neues Gerät heute zum ersten Mal.
„Kannst du nicht einen Unterschrank auf Rollen besorgen, damit man ihn aus dem Regal hervorziehen kann? Er ist ja viel zu weit weg von der Sitzgruppe!“
„Daran hatte ich auch schon gedacht“, erwiderte ich wieder höflich, verheimlichte aber, dass ich ihn demnächst ins abgelegene Gästezimmer verbannen wollte. Ich schaue fast nie fern.
„Es gibt so schöne Konzerte der Berliner. Die kannst du live miterleben, wie im Konzertsaal. Du brauchst nur ein HDMI-Kabel, um ihn an den Laptop anzuschließen.“
Dass ich daran vielleicht nicht so sonderlich interessiert sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Ich hörte distanziert lächelnd und kommentarlos zu, wie sie weiter vom Hörgenuss der Berliner Sinfoniker mit ihrer eigenen Anlage schwärmte.
Ilse ist verwitwet, so wie ich, einige Jahre älter als ich, aber technisch gut ausgestattet: teure Kaffeemaschine für viele raffinierte Köstlichkeiten mit Kaffeepads, ein sich automatisch öffnendes Garagentor vor einer Doppelgarage, den dazu gehörigen Mercedes älteren Baujahres, eine durchdachte Beleuchtungsanlage für Haus und Garten, einen Backofen und ein Mikrowellengerät in Augenhöhe, einen Fernseher mit 55 Zoll, um nur das zu nennen, was mir fehlt. Und sie hat einen Gärtner – was ich sehr bewundere. Ich habe vergessen, wie teuer der ist, obwohl sie es mir vorgerechnet hat und Andeutungen machte, dass sie ihn sich kaum leisten könne. Mir fällt in letzter Zeit immer wieder auf, dass Leute, die viel Geld haben. über Geldsorgen reden. Ich kenne keine Geldsorgen und deswegen konnte ich dazu wieder nichts sagen.
„Ich hab mir ein neues Navi gekauft, muss aber noch den Umgang damit üben. Man muss so viel einstellen, bis man im richtigen Programm ist. Im Kaufpreis mit eingeschlossen sind alle Updates nach 2 Jahren“, verkündete sie. Als ob ich das so genau wissen wollte. Ich sagte also nichts dazu als nur „aah, okay, schön, prima“ und fragte mich im Stillen, wohin und wie weit sie mit ihrem Auto fahren wollte – so alleine. Sie ist nämlich sehr ängstlich, fährt nicht mehr in der Dämmerung oder gar bei Nacht und lässt sich auf weiteren Strecken von Freunden lieber mitnehmen, als dass sie selbst fährt. Oder sie nimmt den Zug.
Zwei Stunden blieb sie, dann brach sie auf, um nicht in der Dämmerung nach Hause fahren zu müssen. Ich betrachtete die beiden kleinen Flaschen, die verlassen und unbeachtet noch auf dem Küchentisch standen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ilse trinkt so gerne Sekt und sicher hatte sie erwartet, dass ich ihren Sekt gut gekühlt anbiete. Sowas Dummes, dass mir das nicht rechtzeitig eingefallen war. Da sieht man mal wieder, dass ich mich mit Sekt und damengemäßen Wünschen nicht so auskenne.
Wenige Tage später waren wir beide mit ihrem Wagen unterwegs – natürlich mit dem Mercedes, aus dessen tief liegendem Sitz ich beim Aussteigen nur mit Mühe hochkam. Sie brauchte meine Begleitung, weil sie zu einem Termin im Schwarzwald, wo ich bis vor kurzem 36 Jahre lang lebte, nicht alleine fahren wollte. Selbstverständlich kannte ich jede Kurve und Abzweigung auf der vor uns liegenden Strecke. Und trotzdem schaltete sie den Navi an. Eine Unterhaltung wurde unmöglich, dauernd fuhr die elektronische Ansage dazwischen: „Nach 200 m links abbiegen. Jetzt links abbiegen. Halten Sie sich links. Jetzt abbiegen.“ Nichts anderes hatte ich ihr gesagt. Aber nein, sie ließ sich durch diese Konservenstimme jede Richtungsänderung bestätigen. Ich war beleidigt und ließ nun dem Navi den Vortritt. Wir fuhren schweigend weiter.
Einige Monate danach rief sie mich an. Sie hätte da eine interessante Tagung für Alte Musik entdeckt. Am Chiemsee. Auf der Fraueninsel. Das wäre doch auch etwas für mich, zumal das doch meine alte Heimat sei. Wir könnten unsere Flöten mitnehmen und nach Herzenslust im Ensemble musizieren. Und sie liebe den Chiemsee sehr und würde so gerne mal wieder dort sein. Wir könnten doch gemeinsam hinfahren. Sie gab mir die Tagungs-Daten durch und ermunterte mich, mir das mal durch den Kopf gehen zu lassen.
„Wir fahren am besten mit deinem Auto. Du weißt ja, ich sitze bei so weiten Strecken nicht mehr selber am Steuer“, verkündete sie munter, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt wäre. „Die haben auch Einzelzimmer. Wir nehmen natürlich zwei Einzelzimmer. Dann ist jeder unabhängig.“ Denkt sie vielleicht, dachte ich.
Wenn wir nämlich etwas unternehmen wollten, also runter von der Insel, säße immer ich am Steuer, dachte ich auch. Und wie ich die Sachlage voraussehe, bestimmte immer sie, wohin wir beide wollten. Und dann das Auto: Es müsste ja am Ufer zurückbleiben. Sämtliches Gepäck für 10 Tage und unsere Instrumentenkoffer müssten wir zu Fuß an die Anlegestelle der Fähre bringen und am anderen Ufer bis zum Hotel damit laufen. Und das bei unseren Rücken- und Gehbeschwerden. Wir sind in dem Alter, in dem man nicht mehr mit einem Rucksack verreist. Mir graute. Ich sagte ab.
Ich malte ihr am Telefon aus, wie schwierig ich sei, dass sie sicher nicht froh würde, mich als Begleiterin zu haben. Sie fand es schade und meinte, sie hätte es sich gut vorstellen können zusammen mit mir zu verreisen. Sie war nicht überzeugt, konnte mich aber nicht umstimmen. Ich blieb eisern.
Ziemlich blöd kam ich mir dennoch vor. Da ist jemand, der mit mir einige Tage wegfahren will, und ich sperre mich und sehe nur die Schwierigkeiten. So ist das nun eben. Dass es umgekehrt mir Schwierigkeiten bereitet, mit ihr unterwegs zu sein, darauf kommt natürlich niemand.