Sich lösen

Text zum Thema Heimat

von  shinai

Orte haben Masse. Eine Schwere, die durch die Füsse, die Beine hoch bis in den Kopf kriecht und das Denken fesselt. Unterwegs nimmt sie das Herz gefangen. Das sie dafür hasst. Das sie dafür liebt.

In den Städten Europas fühle ich sie überdeutlich, diese Schicht um Schicht aufgetragene Vergangenheit. Beinahe kann ich sehen, wie Generation um Generation Geschichte auftürmt; wie die Nachgeborenen über das holprige Gebilde stolpern, sich darüber ärgern und dennoch genau dasselbe tun. Hier fühlt man die Tradition, das Gemeinschaftliche, die Pflicht. Hier haben vergangene Fehler Gewicht – mehr als Erfolge. Erfolge sind immer etwas Neues, ein Moment; Fehler bleiben.

Mein Denken ist stark von der Stadt geprägt, in der ich lebe. Und das, obwohl ich es nicht will. Obwohl mein Vater aus einer offeneren Kultur, einer offeneren Familie stammt, als man sie gemeinhin hier findet. Was mir etwas Freiraum schenkt. Den hat er mich gelehrt. Danke, Vater.

Aber die Masse holt jeden ein. Auch meinen Vater, der immer schwerer wurde, je länger er hier lebte. Und unglücklich – vielleicht. Das lässt sich nur schwer sagen.

Orte infizieren. Sie binden die Menschen an sich. Und wenn mir der Druck zu viel wird, flüchte ich. Für einen Tag, eine Woche. An einen anderen Ort mit Masse.

Auf der Reise denke ich, wie schön so ein Leben sein muss. Immer unterwegs, kaum angekommen, schon wieder fort. Frei von Geschichte, Vorurteilen und Mentalität. Und dann erinnere ich mich an die Städte im Südwesten der USA.

Inmitten überwältigender Natur stehen Häusergruppen, ausgebreitet wie ein riesiger Teppich. Unwirklich und verwundbar, fehl am Platz. Hier verspottet die Natur die Menschen. Hier lacht sie über die ankerlosen Häuserhaufen. Hier glaube ich, eine Welle genügt, ein kleiner Sandsturm und der Ort ist fortgespült. Weil er keine Masse hat, kein Fundament. Hier fühle ich mich unsicher, verletzlich und schrecklich klein.

Dann doch lieber meine alte Stadt mit ihrer falschen Sicherheit und ihren Forderungen. Und vielleicht ist es ganz gut so. Denn wenn man das nicht kennt, wie soll man sich je davon lösen?

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(05.01.15)
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