Sonnenuntergang

Text zum Thema Erkenntnis

von  shinai

Von Sedona hatte ich in einem Buch gelesen. Eine Künstlerstadt, hiess es da. Das klang spannend. Und nachdem ich zwei Wochen im reichlich kulturlosen Südwesten der USA verbracht hatte, setzte ich mich eines Morgens ins Auto und fuhr gen Norden. Über die abenteuerliche Autobahn bei Phoenix, durch die Black Hills zu den Red Rocks, die einen unvermittelt anspringen wie Wegelagerer. Im einen Moment steile Talflanken, im nächsten Moment leuchten rote Felsriesen in der Ebene, und am Horizont dräut eine rostrote Bastion aus Stein.

Hier in den Tälern zwischen flachen Hügeln hatten sich also Künstler zusammengerottet, um von der allgegenwärtigen Inspiration zu profitieren. Und eine typische amerikanische Kleinstadt besiedelt. Häuser im Pueblostil, weitläufig arrangiert, Shopping Malls an den Hauptstrassen – eine Künstlerkommune hatte ich mir anders vorgestellt.

Mein Hotel lag im Süden auf einem Hügel, gleich neben dem kleinen Flugplatz. Und nachdem ich die Formalitäten an der Rezeption hinter mich gebracht hatte, meinte die Besitzerin, ich werde doch sicher den Sonnenuntergang betrachten wollen. Hier auf dem Hügel habe man eine gute Sicht. Die Leute kämen aus der ganzen Stadt. Jeden Abend. Das wolle ich mir doch nicht entgehen lassen.
„Nein“, murmelte ich unter ihrem stechenden Blick und hatte meine erste Verabredung in Sedona. Mit einem Sonnenuntergang.

Kurz vor dem kosmischen Ereignis liess ich mich in der Herde der anderen Gäste zum für das Sonnenuntergangbetrachten bestimmten Aussichtspunkt treiben – ein kleiner Platz mit grosszügigem Parkplatz. So viel Pragmatismus muss sein. Dort standen wir, blickten gehorsam nach Westen und warteten. Die weissen Adern in der roten Felswand leuchteten, die ockerfarbenen Einschlüsse und grauen Flecken wirkten wie gemachte Verziehrungen. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen.

„He said he was driving to Las Vegas, but I wonder.“ Lachen.
“Yeah, he’s broke!”

Die Sonne berührte den Rand der Felsformation und überflutete die Landschaft rotgolden wie es sich gehört.

„The camera is not workin’!“
“Mom!”

Es war schön. Das sind Sonnenuntergänge immer. Und dieser war nicht einmal kitschig. Kein Rosa, kein Violett, keine betont flauschigen Wattewölkchen. Die Sonne ging einfach prosaisch unter. Ein solider Sonnenuntergang.

„There’s an awesome BBQ near the Bridge.”

Als ich dort stand inmitten der Leute fragte ich mich, warum ich so etwas Erhabenes nicht häufiger beachte? Warum nehme ich mir dafür nie Zeit? Sollte ich nicht jeden Abend auf einen Hügel klettern und den Sonnenuntergang betrachten? Weil es der letzte sein könnte, wie man so schön sagt. Und wenn, warum nicht auch den Sonnenaufgang?

Daneben schnatterten die Leute. Das störte. Warum kann ich nicht allein sein, dachte ich. Denn so widersinnig es sein mag: Sonnenuntergänge sind für mich etwas Persönliches. Nichts, was ich teilen möchte. Den perfekten Sonnenuntergang stelle ich mir als einsamen Moment im Nirgendwo vor. Ohne Gequatsche, ohne Autos, die den Hügel hoch kurven, ohne Kameragefummel.

Das hier ist falsch, dachte ich. Und weil ich die ganze Zeit nachdachte und krampfhaft nach dem erhabenen Gefühl suchte, das ich fühlen sollte, fühlte ich nichts. Was mich enttäuschte. Und dann war die Sonne weg, und ich leer.

Am nächsten Morgen wollte ich Kunst sehen. Ich fuhr in die Randgebiete zu Häusern, die „Authentic Art“ und „Art & Antiques“ verkündeten, doch meine Ausbeute war mager. Die einheimischen Künstler produzierten Kitsch – zu viele Sonnenuntergänge von der wattigen Sorte, vermute ich.

Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, wandte mich von den Künstlerhäuschen ab und versuchte mein Glück in der Innenstadt. Die schien mir genauso falsch wie das kollektive Sonnenuntergangbetrachten: Der Pueblostil passte zwar in die Landschaft, aber die ganze Stadt wirkte, als schäme sie sich ihrer Anwesenheit. Inmitten der Felsgiganten schien Zivilisation fehl am Platze, so gering sie auch sein mochte. Und der Schritt in die klimatisierte Galerie war so surreal, dass mir der Atem stockte.

Hier wurde ich nicht nur darüber belehrt, dass überdimensionierte grellpinke Blüten künstlerisch relevant seien, sondern auch darüber, dass es mit den hiesigen Künstlern nicht weit her sei – was ich bereits wusste.
Darum stelle er prinzipiell nur Ausländer aus, proklamierte der Galerist, ein beleibter Herr mit sonnengebräuntem Teint aus der Tube. Ich verliess die Galerie, bevor er mich ausstellen konnte.

Galerie folgte auf Galerie, und meine Hoffnung schwand. Wehmütig dachte ich an Florenz, aus dem ich kunstmüde und überladen mit Eindrücken geflohen war.

Warum war ich noch mal hergekommen?

Es wurde heiss. Die Sonne stand im Zenit, unbeachtet von allen, weil sie keine Verabredung mit ihr hatten. Ich floh in die Kühle der nächsten Galerie.

Und da fand ich es.

An den klinisch weissen Wänden hingen die Bildkonstruktionen eines osteuropäischen Künstlers. Er hatte nicht gemalt. Er hatte Holz geschnitzt, gehobelt und zerschnitten in verschiedenen Brauntönen und Maserungen, und sie dann so zusammengefügt, dass sie Bilder zeigten: Die Kuppel einer Kirche, eine Kathedrale, eine Landschaft. Aus Holz.

Ich stand staunend davor. Ich betrachtete den Preis auf dem wenig dezenten Schild unter dem Bild. Dann ignorierte ich ihn. Die Galeristin flötete mir ins Ohr, dass sich eine Investition lohne, weil der Wert dieses Künstlers steigen werde. Und den Versand würde sie auch übernehmen. Sie ignorierte ich ebenfalls.

Alles was mich interessierte war das kleine holzgemachte Bild einer engen Gasse mit einer Gaslaterne. Unscheinbar. Überwältigend schön. So sollte sich ein Sonnenuntergang anfühlen. Vermutlich war der Künstler nie in Sedona gewesen. Manche haben eben Glück. Und in diesem Moment zählte ich dazu.

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